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Halbmarathon-WM 2016 in Cardiff - Jede Sekunde zählt?

Halbmarathon-WM 2016 in Cardiff - Jede Sekunde zählt?

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Sein wir doch mal ehrlich: Was ich und du für Zeiten laufen, interessiert keine Sau. In jungen Jahren jagt man noch mit übertriebener Ernsthaftigkeit persönliche Bestzeiten. Jede Sekunde zählt, weil Peter Greif uns weiß macht, dass du kein echter Läufer bist, wenn du die 10 Kilometer nicht unter 40 Minuten schaffst. Aber irgendwann wirst du älter, der Job fordert mehr Kraft, andere Dinge werden wichtiger im Leben … und so weiter. Dir wird klar: Wenn du bei deinen Läufen irgendwo im großen Mittelfeld mitschwimmen, ist es egal, ob du ein paar Plätze weiter vorne oder weiter hinten ankommst.

Seit ein paar Jahren laufe ich nur noch, weil es ein schöner Ausgleich zum Alltag ist. Hier und da ein kleiner Volkslauf, zweimal im Jahr ein großer Stadtlauf verbunden mit einem Kurzurlaub – keine Ambitionen auf Bestzeiten, Laufen nur aus Spaß an der Sache.

Vor drei Monaten hatte ich mich spontan entschlossen, zum Neujahrsmarathon nach Zürich zu fliegen. Halbmarathon laufen statt Silvesterböllerei. Eine Zeit unter 1:35 Stunden sollte trotz mäßigem Trainingszustand drin sein. Am Ende quälte ich mich zu einer 1:36er-Zeit. Wie gesagt eigentlich egal, aber dennoch irgendwie unbefriedigend.

Auf geht's zur WM!

Ein paar Tage später lese ich von den Halbmarathonweltmeisterschaften in Cardiff. Ein offenes Massenrennen, das zusammen mit der Männerelite gestartet wird, steht auf dem Programm. Geil! Zusammen mit den Besten der Besten an den Start gehen und an echten Weltmeisterschaften teilnehmen. In welcher anderen Sportart ist das möglich? Für mich war sofort klar: Mein Kurzurlaub zu Ostern geht nach Wales.

Plötzlich interessiert mich aber die ach so unwichtige Zeit doch wieder. Diesmal muss es unter 1:35 Stunden gehen. Nein, es sind schließlich Weltmeisterschaften: unter 1:30 Stunden! Schritt eins: erst einmal ein neues Paar Laufschuhe besorgen. Schritt zwei: mit dem Training anfangen. Und es läuft. Bis Mitte März komme ich wieder so weit in Form, dass eine 1:30 an einem guten Tag möglich scheint.

Am Karfreitag geht es mit dem Flieger nach Cardiff. Auf der Taxifahrt zum Hotel zucke ich immer wieder unwillkürlich zusammen, wenn der Fahrer rechts überholt oder „falsch“ in den Kreisverkehr einbiegt. An den Linksverkehr muss man sich erst gewöhnen. Check-in im Hotel, Startnummer abholen: alles wie bei einem stinknormalen Halbmarathon – und doch etwas mehr Vorfreude, etwas mehr Anspannung als sonst. Das Wetter ist übrigens traumhaft: milde Temperaturen, Sonnenschein und kaum Wind. Aber der Wetterbericht der BBC kündigt für den Renntag Regen und Sturm an.

Die Weltelite hautnah

Der nächste Morgen beginnt für mich mit einem herzhaften britischen Frühstück. Rührei, Schinken, Bohnen in Tomatensauce. Gewiss keine leichte Läuferkost, aber der Start ist erst um 14.10 Uhr – also alles kein Problem.

Gegen Mittag mache ich mich auf den Weg zum Start. Tausende von Läufern bevölkern die Straßen. Der Himmel ist wolkenverhangen und der Wind frischt auf. Nachdem ich meinen Kleiderbeutel abgeben habe, schlendere ich zur Startlinie vor dem Cardiff Castle. 35 Minuten vor dem Hauptfeld geht hier die Frauenelite ins Rennen. Das will ich sehen! Um halb zwei erscheinen die Läuferinnen. Kaum 20 Meter trennen mich von ihnen, während ich zwischen den anderen Zuschauern am Straßenrand stehe. Ich erkenne Anna Incerti, Sara Hall und Eloise Wellings. Die Kenianerinnen könnte ich kaum auseinanderhalten, stünden ihre Namen nicht auf ihren Startnummern. Eine von ihnen sticht allerdings mit ihrer lustig gefärbten Kurzhaarfrisur heraus: Peres Jepchirchir. In gut 67 Minuten wird sie sich Weltmeisterin nennen dürfen.

Leichter Regen setzt ein. Dann der Startschuss – und weg sind die schnellen Damen. Zeit für mich, in meinen Startblock zu gehen. Ich drängele mich durch die Zuschauermassen, um ein Stück weiter hinten auf die andere Straßenseite zu gelangen, wo sich die Eingänge für die Läufer befinden.

Rings um mich herum ein Meer von Läufern in weißen Regenponchos, die vom Veranstalter verteilt worden waren. Mit einer Zielzeit von unter 1:30 Stunden reiht man sich ziemlich weit vorne in der Aufstellung ein. Nur etwa 50, 60 Meter vor mir warten Geoffrey Kamworor, Bedan Karoki und Mo Farah. Über die Köpfe der vor mir stehenden Läufer hinweg kann ich sie nicht sehen. Aber ich weiß: Dort sind sie und warten auf denselben Startschuss wie ich.

Das geht ja gut los ...

Ein britischer Schlagerstar (?) gibt auf der Bühne ein ziemlich kitschiges Lied zum Besten. Dann erscheint IAAF-Präsident Sebastian Coe und sagt ein paar Worte. Zum Glück fasst er sich kurz, denn das Wetter wird immer ungemütlicher und alle wollen nur noch loslaufen. Ganz schnell noch die Vorstellung der Favoriten – besonders großer Jubel natürlich für Farah – und dann fällt ohne weitere Vorwarnung der Startschuss.

Vorne stürzt Geoffrey Kamworor. Zum Glück ist er schnell genug wieder auf den Beinen, um nicht um den tausenden von Läufern in seinem Rücken niedergetrampelt zu werden. Binnen eines halben Kilometers hat er sich bereits an die Spitze zurückgekämpft.

Davon bekomme ich nichts mit und lasse mich mit den Massen treiben. Sonst hat man bei großen Läufen immer die Sorge, auf den ersten Kilometern wertvolle Sekunden zu verlieren. Im großen Gedränge fehlt der Platz zum Überholen – oder man muss Schlangenlinien laufen. Das ist hier nicht anders. Aber die Startblockeinteilung funktioniert hier offenbar besser. Um mich herum laufen alle gleichmäßig etwa 4:10er-Pace. Genau das richtige Tempo und gleichzeitig laufe ich immer im Windschatten. So merke ich auf den ersten sechs Kilometern nichts von dem Wind, der uns aus Richtung Süden entgegenbläst. Oder sagen wir mal auf den ersten knapp vier Meilen. Denn das gewohnte Piepskonzert der Läuferuhren ertönt hier nur alle 1,6 Kilometer.
Nach sieben Kilometern wendet sich der Kurs nach Norden. Das heißt für mich im wahrsten Sinne des Wortes Rückenwind. Die Kilometerschilder fliegen nur so an mir vorbei. Nur von der eigentlich wunderschönen Strecke am Hafen entlang bekomme ich nichts mit. Ich bin vollkommen auf das Laufen konzentriert.

Unterdessen haben Kamworor und Karoki ernst gemacht. Bloß kein langsames, taktisches Rennen riskieren, denn im Schlusssprint ist Farah nicht zu schlagen. Sie müssen ihn vorher brechen. Bei 5 Kilometer gehen sie in wahnwitzigen 13:41 Minuten durch, 15 Kilometer erreichen sie nach 41:41 Minuten. Ihr Plan geht auf: Die beiden setzen sich vom Rest des Feldes ab, auch Farah kann nicht folgen und liegt 22 Sekunden zurück. Ungefähr zu dieser Zeit passiere ich die 10-Kilometer-Marke. Bei mir läuft also auch alles nach Plan.

Jetzt wird's eng

Kurz nach drei öffnet der Himmel seine Pforten. Aus Nieselregen wird für ein paar Minuten ein heftiger Regenschauer, der uns alle bis auf die Knochen durchnässt. Echten Walisern scheint solch ein Wetter nichts auszumachen. Ungerührt harren die Zuschauermassen am Streckenrand aus und jubeln den Läufern lautstark zu. Großartig! Ich bin gerade auf dem 14. Kilometer, während viel weiter vorne Kamworor und Karoki den Kampf um Gold und Silber eröffnen. Die Verfolgergruppe um Farah hat keine Chance mehr heranzukommen.

Nach 15 Kilometern liege ich klar auf Kurs sub-1:30. Bis hierher deutlich unter Zielpace und mit lockeren Beinen: Das ist jetzt nur noch Formsache. Kamworor ist schon seit vier Minuten im Ziel und Weltmeister. Er hat Karoki auf dem letzten Kilometer einfach stehenlassen. Farah konnte den Sprint der Verfolgergruppe für sich entscheiden und wurde Dritter. Alle drei unter 60 Minuten – und das bei den widrigen Wetterbedingungen. Die bekomme ich jetzt auch zu spüren. Irgendwie fühlt es sich nach Gegenwind an, obwohl es noch Richtung Norden geht. Oder ist das nur Kopfsache? Jedenfalls brauche ich für die nächsten beiden Kilometer jeweils 4:30 Minuten. Aber das müsste doch trotzdem noch reichen? Dann ein Vergleich zwischen den Kilometerschildern und meiner GPS-Uhr: gute 150 Meter Diskrepanz. Klar, am Ende stehen auf der Uhr immer mehr Meter als die Rennstrecke vorgibt, denn wer läuft schon an jeder Kurve auf der Ideallinie? Jedenfalls wird es jetzt nochmal eng für mich.

Es gelingt mir, die Pace wieder ein klein wenig anzuziehen. Die letzten Kilometer führen wieder nach Süden. Nun müsste also wirklich Gegenwind kommen, aber ich fühle ihn nicht. Irgendwo kurz vor Kilometer 20 kommt ein kurzer, scharfer Anstieg – der einzige dieser Art auf der sonst flachen Strecke. Irgendwie schleppe ich mich über die „Berg“kuppe. Und jetzt heißt es, nochmal alle Kräfte zu mobilisieren, damit es klappt. Der letzte Kilometer zieht sich natürlich. Endlich die letzte Kurve! Die Uhr am Zielbogen zeigt irgendwas mit 1:29 an. Jetzt heißt es nur noch rennen, was die Beine hergeben.

Und was lerne ich daraus?

Am Ende bleiben 1:29:49 Stunden brutto stehen. Punktlandung! Wäre die Welt untergegangen, wenn ich die 1:30er-Marke nicht geknackt hätte? Nein. Hätte es irgendjemanden außer mich interessiert? Höchstwahrscheinlich auch nicht. Bei meinen nächsten Läufen wird die Zeit wieder zweitrangig sein. Aber hin und wieder macht es doch Spaß, um jede Sekunde zu kämpfen. Wer weiß: Das nächste Mal vielleicht in Valencia, wenn dort 2018 die nächsten Halbmarathonweltmeisterschaften stattfinden?
"What do you do, you just go out there and gambol about like a bunny?" - Sheldon Cooper
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