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Deutschland. Ein Wintermärchen - Frankfurt-Marathon 28.10.2012

Deutschland. Ein Wintermärchen - Frankfurt-Marathon 28.10.2012

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Die Stadt, berühmt durch ihre Würste und Universität, gehört dem Könige von Hannover, und enthält 999 Feuerstellen, diverse Kirchen, eine Entbindungsanstalt, eine Sternwarte, einen Karzer, eine Bibliothek und einen Ratskeller, wo das Bier sehr gut ist. Die Stadt selbst ist schön, und gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht.

Nein, hier ist nicht von der Stadt Frankfurt am Main die Rede. Die ist eher berüchtigt für die skrupellose Ausbeutung abhängig Beschäftigter, erbärmliche Kost sowie einen horrenden Frauenüberschuss, der wohl selbst noch den verklemmtesten Investmentbanker, der seine Potenz erst im Umgang mit dem schnöden Mammon entfaltet, eine Chance bei der Damenschaft wittern lässt. All dies wird bekanntlich bis zum heutigen Tage inbrünstig besungen.

Die auftakthalber zitierten herzlichen Worte sind vielmehr jener Stadt gewidmet, in der ich einst das Neonlicht des Kreißsaals erblickte. Den Autor wollten wenige wirklich haben. Auch aus meiner Heimatstadt hat man ihn schließlich verjagt. Allerdings nicht, weil er notorisch rotzfrech war, sondern weil man es ihm übelnahm, dass er sich gegen Beleidigungen bezüglich seiner zuvor in Frankfurt recht eigentlich entdeckten Herkunft und Religionszugehörigkeit in der damals unter angehenden Akademikern üblichen Art zur Wehr setzte.

Vor 99 Jahren (da war er schon 57 Jahre tot) setzte ihm Frankfurt als erste Stadt ein Denkmal, an dem wir bei km 1,5 - seien wir doch ehrlich! - mehr oder weniger achtlos vorbeigelaufen sind. 20 Jahre später wurden dann im ganzen Land auch seine Bücher verbrannt. In seiner Heimatstadt lief ich vor einem halben Jahr meinen letzten Marathon, und dem häufig ironischen und humorvollen, vielmals satirischen, gelegentlich despektierlichen und in seltenen Fällen gern auch einmal ein ganz klein wenig gehässigen journalistischen Stil, den er geprägt hat, sind letztlich auch meine eigenen Laufberichte verpflichtet. "Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht" - dies hat er einst in der Pariser Emigration gedichtet. Weil es ihm kaum je vergönnt war, zu lieben, ohne zugleich dabei zu leiden. Wahrscheinlich wäre er ein großartiger Marathonläufer geworden.

Kurzum: Mit diesen Zeilen beginnt er einen Bericht über seine Brocken-Challenge, dem seither in nun beinahe 200 Jahren nach wie vor niemand das Wasser hat reichen können.

Über Frankfurt hat er sich meines Wissens nie in ähnlich eingehender Weise geäußert, wiewohl seine Eltern ihn in jungen Jahren dorthin geschickt haben, auf dass er beim Herrn Rindskopff das Bankhandwerk erlerne. Der hat es ihm aber ebenso wenig beibringen können wie später Onkel Salomon in Hamburg. Was ein Glück! Hätte er den Rest seiner Tage mit dem Schreiben dröger Zahlen hingebracht, wäre der Nachwelt manche Perle entgangen.

Über seine letzte Reise nach Deutschland hat er einen Bericht geschrieben, den der Titel als Wintermärchen bezeichnet. Auch hier kommt Frankfurt nicht vor. Schade eigentlich. Um so mehr wird es Zeit, dass diese Lücke wenigstens nach Maßgabe meiner bescheidenen Fähigkeiten geschlossen wird. Immerhin werden hier die höchsten Mieten der Republik nicht nur verlangt, sondern auch gezahlt - was deutlich zeigt, wie einträchtig Gier und Dummheit bisweilen beieinander wohnen.

Wir schreiben den 27. Oktober 2012. Das Unzulängliche, hier wird's Ereignis; das Unbeschreibliche, hier ist's getan: Die Stadt Frankfurt am Main, sonst berühmt für ihre Grüne Soße und einen milden Altweibersommer am letzten Oktoberwochenende, ächzt unter der Last eines eisigen Nordwindes. Der treibt schon früh am Morgen die ersten Schneeflocken durch Eschborn, wo wir das Wochenende bei einer guten Freundin verbringen. Tief verschneit bietet sich am Nachmittag der Feldberg den Blicken dar, ganz gleich ob man seinen Augen traut oder nicht. Die Grundfrage aller Wissenschaft lautet nunmehr: "Was zieh ich morgen bloß an?". Von bedrängender Enge dünkt die Welt der schlaflosen Nacht vor dem Rennen. Gleichwohl verliert sich das bange Herz in der Ödnis des weglosen Raumes zwischen den vier Polen Lang und Kurz, Dick und Dünn.

Dann ist der Sonntag da, ohne Wolken und ohne Wärme. Dafür wie gehabt mit leichtem bis mittlerem Nordwind. Fröstelnd steht eine unüberschaubare Menge von Läufern am Start. Weit vor mir sehe ich einige gelbe Ballons mit der Aufschrift "2:59". Vor diese Ballons muss ich gelangen, um mir ein zwar wärmendes, aber ansonsten nicht sehr erquickliches Gedränge auf den ersten Kilometern zu ersparen. Allein, es gelingt mir nicht, gar zu kompakt stehen die Massen, und der erste Kilometer wird später in mehr als viereinhalb Minuten dahingehen. Der erste Nagel für den Sarg der begrabenen Hoffnung auf eine Zeit unterhalb von 2:50 h.

Aber so weit sind wir noch nicht. Zunächst stehen wir am Start und frösteln. Ein Animateur, der wahrscheinlich wärmer angezogen ist als wir, verliest eine Liste mit den Namen derer, die gelegentlich in der Zeitung zu lesen sind (sofern der Sportteil noch Raum für anderes als Fußball lässt), und die mit dem Privileg gesegnet sind, dass ihre Startnummern aus Buchstaben bestehen. Dann fragt er, ob wir den totalen Marathon wollen. Oder Ma-O-Am. Oder so ähnlich - ich hab's vergessen. Schließlich lässt er uns auch noch von Zehn rückwärts zählen. Eine geradezu ungeziemend anspruchsvolle Denksportübung bei der winterlichen Kälte.

Aber offensichtlich haben wir alles richtig gemacht, denn bei Null erhebt sich zur Belohnung eine gigantische Traube blauer Ballons in den azurnen Himmel, und hienieden geht's her wie weiland bei Schillern: Alles rennet, rettet, flüchtet!

Zumindest müht man sich redlich. Die Service-Welle aus Frankfurt meldet wahrscheinlich soeben mehrere Kilometer stockenden Verkehr auf der Friedrich-Ebert-Anlage. Nach gut 1000 Metern Stop and Go ist der Weg so weit frei, dass ich halbwegs mein Wunschtempo laufen kann.

Der Kurs durch die Stadt ist zunächst vor allem von Kurven geprägt. Immer wieder biegt man um eine Ecke und bekommt unversehens den schneidenden Boreas direkt ins Gesicht geblasen, sodass man augenblicklich zur Maske erstarrt. Überdies ist es hier recht düster. Wohl erahnt das Auge droben die Sonne, doch in den Niederungen der Straßenschluchten spüren wir mit jeder Faser, was einst Goethe den Götz von Berlichingen sagen ließ: Wo viel Licht ist, ist starker Schatten. Denn jede Bank auf dem weiten Erdenrund, die etwas auf sich hält, hat sich just hier ein Hochhaus errichten lassen, vor dem wir Läufer uns ausnehmen wie Ameisen, die wohl gern auch etwas von der holden Frau Sonne abbekommen hätten, die aber zu einem Dasein in jenem Erdenstaub verdammt sind, dem sie entstammen und zu dem sie einst wieder zurückkehren werden. Was dann bleibt, ist ein Grand Canyon aus himmelstrebenden Mammontempeln, die wohl schon das scheinbar bedauernswerte, am seligen Ende aber doch nicht gerichtete, sondern gerettete Gretchen vorhergesehen haben mag: "Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles - ach, wir Armen!" An solchen Zeilen zeigt sich der wahre Kenner, der echte Frankfurter eben!

Bei km 4,5 erschreckt uns ein ebenso riesenhafter wie furchterregender Wegelagerer, der gierig das Maul aufreißt und uns seinen langen Hals entgegenreckt, den er anscheinend nicht voll kriegen kann. Nein, diesmal handelt es sich weder um einen Anlageberater noch um einen Politiker. Noch nicht einmal um den vierpfotigen, kläffenden Schrecken aller Läuferinnen und Läufer. Nein, der hier tut wirklich nichts. Der will noch nicht einmal spielen, denn er ist so unecht wie seine dritten Zähne, die er grimmigen Blickes fletscht. Ein leibhaftiger, jedoch aus irgendwelchen Kunststoffen gefertigter Dinosaurier (nein, auch kein Verbandsfunktionär!) ist es, der hier vor den Katakomben seiner Artgenossen den Dienst als Türsteher versieht. Denn soeben defiliere ich am Senckenberg-Museum vorüber. Dort studierte ich einmal die Anatomie dieser vorzeitlichen Reptilien und bestaunte ihre Ähnlichkeit mit manchen heutigen Vögeln, vor allem den Emus, deren Schönheit ich ehrfürchtig bestaune, so oft ich ihnen begegne, und mit denen ich schon so manches Mal um die Wette gelaufen bin - und selbstverständlich jedes Mal zweiter Sieger geblieben bin. Gern hätte ich auch heute einen Blick riskiert, aber wen dieses phantastische Naturkundemuseum einmal verschlungen hat, den gibt es nicht so schnell wieder her. Also weiter!

Wenig später liegt zur Linken der Rothschildpark. Längst ist der Name in Frankfurt nur noch Erinnerung. Aber noch heute rankt sich um den letzten Vertreter der hiesigen Linie des Hauses Rothschild, den vorzeiten hier an der Bockenheimer Landstraße ansässigen Freiherrn Maximilian von Goldschmidt-Rothschild, eine bittersüße Anekdote: Wir schreiben das Jahr 1934. Der Hund des Barons Rothschild ist überfahren worden. Niemand getraut sich, dem Bankier die traurige Nachricht zu überbringen. Schließlich erbietet sich ein zufällig vorbeiziehender armer jüdischer Hausierer, den Freiherrn ins Bild zu setzen. Kurz darauf kommt er mit einer fürstlichen Belohnung zurück. Auf die Frage, wie dies zugegangen sei, erwidert er: "Sehr einfach. Bin ich gegangen zum Baron und hab ich gesagt: Heil Hitler, der Hund ist tot."

Anderthalb Kilometer weiter versuche ich erfolglos, einen Blick auf die Paulskirche zu erhaschen, wo erstmalig in Deutschland ein Parlament tagte - nur um alsbald den kuriosen Versuch zu unternehmen, sich selbst zu entmachten und sich einen König zu wählen. Nicht einmal das ist den Abgeordneten aber gelungen, woraufhin sie ihr Parlament kurzerhand auflösten. Auch eine jener Episoden, die später eine Diskreditierung der parlamentarischen Demokratie ermöglichten, in deren Folge es heute in Frankfurt nicht nur das Bankhaus Rothschild, sondern auch vieles von dem nicht mehr gibt, was unser eingangs zitierter Dichter während seiner fruchtlosen Banklehre hier erlebte. Beispielsweise, dass Menschen normalerweise nicht in Ghettos leben, weil sie dort eine konspirative Atmosphäre suchen, die sie so anregend finden. Vieles hat diese Stadt gesehen, und die wichtigsten Dinge merkt man ihr kaum an, wenn man den Blick nur starr auf die höchsten Türme und den größten Flughafen gerichtet hält. Immerhin beschert vor allem letzterer dem Marathon ein internationales Publikum. Meine Gesprächspartner am Rande des Laufs heißen Marek, Sigurður, Jussi oder noch ganz anders und bieten die Gelegenheit, endlich wieder einmal die abgelegensten Sprachen zu sprechen.

Ab km 9 wird der Parcours übersichtlicher. Die Zeit der permanenten Richtungswechsel ist fürs erste vorbei, die Hochhäuser treten zurück, die Sonne lässt sich sehen und spendet endlich ein wenig Wärme. Bald ist der Main erreicht, auf dessen Südseite die Strecke nun die nächsten 10 km verläuft. Manch einer vermutet hier den berühmt-berüchtigten Weißwurstäquator. Dabei handelt es sich allerdings nur um ein Ammenmärchen, erdacht, um kleine Kinder zu erschrecken, die nicht artig ihren Teller leer gegessen haben und denen man darob für die nächste Mahlzeit Weißwürste mit süßem Senf androht. Tausend Meilen entfernt wünsche ich mir diese Rauschmittel für fehlgeleitete Geschmacksnerven!

Überhaupt ist mir gar nicht nach Essen zumute. In gleichmäßigem Tempo geht es voran, und wenn es so bleibt, ist heute vielleicht doch noch eine Zeit knapp unter 2:50 h zu haben.

Mittlerweile durchlaufen wir Terra incognita. Dieser Teil von Frankfurt steht nicht im Reiseführer. Ehemalige Arbeitersiedlungen, ein Klärwerk und diverse Industriegleise - das sind nicht gerade die touristischen Anziehungspunkte, mit denen moderne Metropolen vor der weiten Welt zu glänzen bestrebt sind. Gleichwohl: Auch hier drängt sich das Volk in dichten Trauben an den Straßen. Kinder recken uns ihre Hände zum Pandsch-Spiel entgegen. Dieses verdankt seinen Namen bekanntlich dem lautmalenden persischen Zahlwort für "Fünf". Inzwischen ist das Spiel bei uns als Gimme Five gängig und hebt auch meine Stimmung ganz beachtlich. Die leuchtenden Augen und fröhlichen Blicke zaubern noch dem müdesten Läufer augenblicklich ein Lächeln ins Gesicht. Man begrüßt mich mit Namen und blickt mir erwartungsvoll entgegen, als sei ich der Weihnachtsmann. Kein Wunder - das Wetter ist dazu jedenfalls angetan. Zudem bin ich oben herum rot gewandet, und der Bart ist zwar noch nicht schlohweiß, aber auf dem besten Weg dorthin. Wenn ich jetzt nur gemütlich auf einem Schlitten sitzen und mich von einem Gespann treuer Rentiere durch die Straßen ziehen lassen könnte! Aber ach, auch diese Illusion zerstiebt im verfrühten Winterwinde. Immerhin ist über solche Tagträume schon wieder ein Kilometer geschafft.

Zwischendurch gibt es immer wieder einmal etwas zu trinken. An einer der Stationen zieht links ein schwarzer Schatten an mir vorbei. Der fährt einen Arm nach rechts aus. Will dieser Mensch mir etwa Einhalt gebieten? Da begegnet diesem Arm von rechts ein zweiter, letzterer mit einem Becher Wasser versehen. In diesem Augenblick werde ich von hinten ein wenig geschoben. Der zerbrechliche Becher zerschellt an meiner Heldenbrust. Der Schatten auf der linken Seite bekommt gar kein Wasser, und ich bekomme es dorthin, wo ich es eigentlich gar nicht haben wollte. Wie naiv von mir zu glauben, es könne heute nicht mehr kälter werden!

Die Häuseransammlung, die wir inzwischen erreicht haben, hört auf den Namen Schwanheim. Von ferne dringen die Klänge einer der vielen Kapellen an mein Ohr, die heute den Lauf mit allerlei Geräuschen untermalen. Diesmal allerdings sind es keine Schlagzeuge, die uns vor sich hertreiben, sondern himmlische Posaunen und sonstige trompetoide Blechröhren, denen Töne entsteigen, wie man sie an Marathonstrecken sonst eher selten zu hören bekommt. Und richtig! Schon überspannt ein violettes Transparent die Straße und verkündet: "Noch 21 km hoffen und beten!" Ja, wenn ich es nicht besser wüsste, nachdem ich doch bereits vor mehreren Minuten den km 22 passiert habe! Aber was soll mir schnödes Zahlenwerk? Wie es scheint, ist eben der Gottesdienst der evangelischen Martinusgemeinde zu Ende gegangen, und die einmal versammelte Gemeinde nutzt die Gelegenheit, uns lautstark Mut und erforderlichenfalls auch Trost angedeihen zu lassen. All diese Menschen haben womöglich sogar eben noch gemeinsam in der Kirche gesessen - was angesichts der beachtlichen Zahl der Schlachtenbummler schon ein ziemlich großes Wunder darstellt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer es für eine Gemeinde ist, ihre Mitglieder zu gemeinsamen Aktivitäten zu mobilisieren. Vor allem am Sonntagmorgen zu nachtschlafender Zeit. Denen hier ist es anscheinend gelungen, und wieder macht es etliche Male Pandsch.

Wie erhebend, dass es in Frankfurt offensichtlich auch anders geht als beim ebenfalls hier ansässigen Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, dem die Welt einen inhaltlich wie ästhetisch ebenso bejammernswerten wie überflüssigen Internetauftritt der Evangelischen Kirche verdankt.

Und schon geht es dorthin, wo zumindest bei einem Laufwettkampf eigentlich niemand hinwill: gen Himmel. In hohem Bogen spannt sich nach 24 km die Schwanheimer Brücke über den Main. Im Gänsemarsch laufen wir geduckten Schrittes über den Fluss, denn nun kommt der schneidende Nordwind direkt von vorn, und jeder sucht die Deckung des anderen. Nach einem knappen Kilometer ist der Spuk vorbei, und man bewegt sich auf das westliche Ende dieses Marathons zu.

Im zarten Kindergartenalter wurden wir einst von der lieben Mutter in die höheren Weihen der deutschen Orthografie eingeführt: "Nein, mein Sohn, das wird nicht Ho-Äxt gelesen, sondern Höchst." Und so verläuft denn der west-östliche Diwan des Frankfurter Marathons zwischen den Polen Gesundheit und Geld. Was ein wenig fehlt und sich hinter den Fassaden in irgendwelchen Nebenstraßen verbirgt, ist die Kultur, denn an Goethe-Haus, Paulskirche und ähnlich denkwürdigen Stätten führt die Strecke ja nicht vorbei.

Hier zwischen Hoechst und Nied, an den eigentlich so idyllischen Gestaden der Nidda, beginnt auch die Erkenntnis in mir Raum zu greifen, dass ich meinem Zeitziel heute vergeblich hinterherlaufen werde. Schwerer werden Beine und Atem. Auch der Wind mag nicht nachlassen. Tiefe Bewunderung empfinde ich für all die Kollegen, die ich immer wieder dabei beobachte, wie sie kurz am Straßenrand innehalten, um sich zu erleichtern und alsdann ihren Lauf fortzusetzen. Das könnte ich schlichtweg nicht. Einmal stehengeblieben, würden die müden Beine nie und nimmer zurück in den Laufschritt finden!

Endlos lang zieht sich die Mainzer Landstraße dem Stadtzentrum entgegen. Das letzte Viertel des Marathons ist angebrochen. Die lange Gerade hat keinerlei Reize zu bieten, selbst meinem sonst nimmermüden Lästermaul verschlägt es die Sprache. Kein Wunder, schließlich muss ich mich auf die Straßenbahnen konzentrieren, die hier dicht an uns vorbeifahren und jedes Überholmanöver zum Hasardspiel geraten lassen.

Aber auch das hat schließlich ein Ende. Hier waren wir doch heute schon einmal! Abermals beginnt eine schier endlose Folge von Kurven durch die labyrinthischen Schluchten der Finanzmetropole.

In der Kaiserstraße laufen wir nahe am Großen Hirschgraben vorbei, wo einst der sog. Inbegriff deutschen Richter- und H... äh, Dichter- und Denkertums das Licht der Welt erblickte. Was diejenigen, die im patriotischen Überschwang einzig und allein den deutschesten aller deutschen Nationaldichter in ihm erblicken, gern übersehen: Er ist zwar einerseits immer Frankfurter geblieben ("Ach, neige, du Schmerzensreiche, dein Anlitz gnädig meiner Not!" - das reimt sich nimmermehr. Jedoch "Ach naische, du Schmetzensraische..." - so wird doch noch ein Schuh draus). Andererseits aber hat er stets den Blick über dem Tellerrand gehabt, nichts war zu entlegen, um seiner alles umfassenden Neugier zu entgehen. Dass er offensichtlich der Überzeugung war, die inspirierende Polarität von Ost und West sei es, welche die Welt im Innersten zusammenhalte, ist bekannt. Auch dass er ein nicht unbedeutender Naturwissenschaftler war, ist eindrucksvoll dokumentiert - nicht zuletzt in einem Museum, an dem vor einem halben Jahr der Düsseldorf-Marathon mehrfach vorüberführte. Dass er aber auch der Dichtung und dem Gesang abgeschiedener Hinterwäldler durchaus zugetan war, die zu seiner Zeit noch nicht einmal über eine eigene Literatur verfügten (seine Übertragung erschien lange vor dem Original im Druck), erhebt ihn zu einem wirklichen Weltbürger, als welchen man ihn eher selten würdigt.

Nachdem der 38. Kilometer sich über 4:26 Minuten hingezogen hat, kann ich mich glücklicherweise wieder aus dem Halbdämmer hochreißen und noch einmal zu einer trüben Ahnung alter Läuferherrlichkeit aufraffen. Welch staunenswertes Wunderwerk ist doch der menschliche Körper! Bedauerlich nur, dass man dessen erst innewird, wenn man jedes einzelne Teil davon spürt. Ansonsten aber vergehen die letzten Kilometer gleichsam in einem gnädigen Delirium.

Irrwitzige Bilder gehen mir durch den Sinn: zornige junge Männer mit emporgereckten Fäusten. Die Gesichtszüge schmerzverzerrt, als hätten auch sie 40 Kilometer in den Beinen. Weit aufgerissen das gräuliche Gefräß, unverständliche Wortfetzen brüllend, dass man schon vom bloßen Hinsehen schier ertaubt. In den stieren Blicken loht ein verheerendes Feuer, die Botschaft ist überdeutlich: Wer sich erkühnt, sich ihnen in den Weg zu stellen, wird auf der Stelle gelyncht oder dem Erdboden gleich gemacht. Diesen Männern steht große und furchterregende Macht ins Gesicht geschrieben, um die sie fürchten und die um jeden Preis zu verteidigen und zu mehren sie sich zusammengerottet haben. Im Hintergrund ist Gottes Wert auf großen Tafeln verzeichnet. Nein, dies sind nicht etwa Erinnerungen an irgendeinen unter religiösen Eiferern verbrachten Pakistan-Urlaub, sondern an einen Fernsehbericht über den Alltag auf dem Parkett der Neuen Börse, die ich soeben passiere.

Das Ende ist nah. Ein letztes Mal führt der Weg ein kurzes Stück über Frankfurts endlose Hassmeile, die Mainzer Landstraße, dann geht es rechts herum zur Friedrich-Ebert-Anlage und dem Messegelände entgegen.

Es folgt eine letzter scharfer Links-Rechts-Haken - und vor mir liegt die Festhalle! Durch einen dunklen Schlund geht es hinein, dann liegt das Ziel vor mir. Im trüben Zwielicht dehnt sich der Raum wie eine ungeheure Spelunke, ausgestattet mit feuerrotem Plüschmobiliar. Wo nur habe ich dergleichen schon gesehen? Richtig: Auerbachs Keller zu Leipzig, jene altehrwürdige Pinte, in der Goethe eine sturztrunkene Rotte also grölen ließ: "Uns ist ganz kannibalisch wohl, als wie fünfhundert Säuen!" Fürwahr, so ist es! Empor fliegen die Arme, ein befreiter Jubelruf entringt sich der ermatteten Kehle. Niemand hört ihn. Nicht einmal ich selbst. Sei's drum.

Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Äonen untergehn. –
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick!


Dann holt mich der Teufel. Aber ebenso wie vordem den Doktor Faust muss er auch mich wieder herausgeben. Denn als ich nach der ersten Welle übermächtigen Schmerzes wieder zu mir komme, finde ich mich mitnichten in der Hölle wieder, sondern im Forum. Vor mir führt eine Reihe von Stufen hinab, dem Ausgang entgegen. Dort muss ich hin. Unten stehen ein paar Helfer und feixen. Das sei ihnen von Herzen gegönnt, aber eine Blöße mag ich mir nicht geben. Schon der olle Hesiod hat es ja gewusst: Vor die Vollendung haben die Götter den Schweiß gesetzt, die unsterblichen, und lang und steil ist der Weg zu ihr. Soll heißen: Ohne Treppe abwärts keine Medaille und keine Zielverpflegung. Mit zusammengebissenen Zähnen nehme ich die Stufen im Vorwärtsgang und wanke dem Ausgang zu.

Nachdem ich mein müdes Haupt vor einer holden Maid gebeugt habe, die mir eine Medaille von Gewicht und Ausmaßen einer Taschenuhr russischer Fertigung umhängt, welche mich vollends zu Boden zu reißen droht, gelüstet es mich nach leiblicher Stärkung. Goethe, Schiller, Heine und all die anderen - keiner der großen deutschen Dichterfürsten hat je Worte gefunden, die da geschickt wären, die Zielverpflegung treffend zu beschreiben. Zu diesem Behufe müssen wir zurück zu den alten Griechen, zu Simonides: Wanderer, kommst du nach Sparta...

Nachdem es mir gelungen ist, mich trotz steifer Finger und sonstiger Glieder umzuziehen, suche ich abermals unsere vielgeliebte Freundin auf, bei der mich die eigentliche Zielverpflegung in Form einer herrlichen heißen Nudelsuppe mit Fleisch und Gemüse nebst Kaffee und Bitterschokolade erwartet. Als es mir dann noch gelingt, mich nach beinahe dreistündiger Heimfahrt ohne Schwierigkeiten aus dem Auto zu falten, betrachte ich den Tag als rundum gelungen und gönne mir einen Wein aus dem Umland von Auxerre, jenem Landstrich, dem auch einige farbenfrohe Läufer entstammen, mit denen ich heute so lange Zeit hindurch Seite an Seite unterwegs war. Santé!
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aghamemnun hat geschrieben:Meine Gesprächspartner am Rande des Laufs heißen Marek, Sigurður, Jussi oder noch ganz anders und bieten die Gelegenheit, endlich wieder einmal die abgelegensten Sprachen zu sprechen.
Ja, so kann das mit 2:50 h auch nichts werden, wenn du statt zu laufen einen Quatschmarathon veranstaltest. Hast dich schnell an Frankfurt angepasst, denn die sind ja ständig nur am Sabbeln...

Nochmal Glückwunsch zur tollen Zeit bei Saukälte! :daumen:

Bernd
Das Remake
Infos zum Laufen und Vereinsgedöns gibt's auf www.sgnh.de

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Ein fantastischer Bericht, einfach traumhaft - wie auch Deine Zeit :daumen:

Ich war als "Tourist" vor Ort - und als Frostköttel sowas von dankbar, dass ich bei dieser Eiseskälte (diesmal) nicht selbst laufen musste, sondern die Stimmung in der Festhalle auch mal als Groupie aufsaugen durfte! Respekt vor jedem, der sich bei der Kälte laufend vor die Tür getraut hat :nick:

Olli
:geil: Helden werden bei Sturm am Strand gemacht! :geil:


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Vielen Dank nochmal für die zahlreichen Glückwünsche!

@ burny: Natürlich haben wir nicht während des Laufs gelabert, sondern vorher und hinterher. U.a. habe ich ein paar Krakauer getroffen (nein, nicht die eßbaren Konkurrenten der Frankfurter, sondern solche auf zwei ziemlich flotten Beinen). Herrliche Stadt! Als ich letztes Jahr dort war, wollte ich gar nicht wieder weg.

Glücklicherweise bin ich jetzt erkältet. Sonst wäre ich wohl schon wieder draußen auf der Strecke und würde es viel zu fix angehen lassen. Wo ich doch schon wieder dieses üble Muskelzucken habe, dem nur durch entsprechende Bewegung abzuhelfen ist.
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aghamemnun hat geschrieben: Glücklicherweise bin ich jetzt erkältet.
Das hat FFM gerne so an sich. 2007 hatte ich direkt danach auch 2mal 2 Wochen schönste Bronchitis und als ich meine Doc um Starterlaubnis für den Erftlauf fragte, hat der nur schallend gelacht...

Liegt m.E. klar an dem Nachzielbereich in FFM. Da stehen abgekämpfte, nassgeschwitze Recken an der "frischen Luft" :uah: und haben max. eine lustige Folie über der Schulter gegen Frostbeulen. Manche waren ja schlau und haben Omas Kniestrümpfe mit. Zum duschen und trockenen Klamotten muss man dort weg und wenn man geduscht, getrocknet und geschniegelt ist, kommt man da nicht mehr rein - das ist sicher "kommerzielle" Absicht und blöde, denn hier wird absichtlich die Gesundheit der Sportler aufs Spiel gesetzt...

gruss hennes

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aghamemnun hat geschrieben: Natürlich haben wir nicht während des Laufs gelabert, sondern vorher und hinterher.
Da baue ich dir nun so eine schöne Brücke ("Die 2:50 hätt ich ja locker geknackt, musste aber während des Laufes noch ausländischen Gäste betreuen"), und du trittst nicht drüber. Tsts!
aghamemnun hat geschrieben: Glücklicherweise bin ich jetzt erkältet.
Gute Besserung!
aghamemnun hat geschrieben:Krakau...
Herrliche Stadt!
Da stimme ich dir uneingeschränkt zu. Da hast du sicher auch das jüdische Viertel in Kazimierz besichtigt, oder?

Bernd
Das Remake
Infos zum Laufen und Vereinsgedöns gibt's auf www.sgnh.de

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burny hat geschrieben:Da baue ich dir nun so eine schöne Brücke ("Die 2:50 hätt ich ja locker geknackt, musste aber während des Laufes noch ausländischen Gäste betreuen"), und du trittst nicht drüber. Tsts!
:klatsch: Und ich Idiot hab's natürlich nicht gemerkt. Der Ehrliche ist und bleibt eben immer der Dumme.
Da stimme ich dir uneingeschränkt zu. Da hast du sicher auch das jüdische Viertel in Kazimierz besichtigt, oder?
Aber selbstverständlich! Auch wenn es natürlich zum Heulen ist, daß vom alten Kroke heute so gut wie nichts mehr übrig ist.

Und seit letztem August spielt mein Computer zu jeder vollen Stunde den Hejnał Mariacki.
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Hallo,

vielen Dank für Deinen auch literarisch äußerst gelungenen Bericht zu Deinem wirklich verdammt schnellen Lauf durch Frankfurt. Zwischendrin hatte ich zwar ab und zu den Verdacht, ich sei aus Versehen in das Feuilleton der FAZ gerutscht, aber dann ging es doch wieder zurück auf die Laufstrecke, auf der Du Dich trotz nicht gerader angenehmer Temperaturen erfolgreich durchgekämpft hast.

Meinen Glückwunsch und meinen Respekt für Deine neue Bestzeit auf der klassischen Distanz! :daumen: Weiterhin wünsche ich Dir eine gute Erholung vom Lauf und eine baldige Genesung von der Erkältung, die Du Dir in der letzten Woche eingefangen hast!
Tschüss, sportliche Grüße aus dem Bergischen Land

Eckhard :winken:

"Radsport ist Mannschaftssport, 60 km/h und 30 cm Abstand zum Vordermann" (Robert Bartko)

Auch 2014 und danach wird weitergelaufen! :zwinker2:

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Rumlaeufer hat geschrieben:Zwischendrin hatte ich zwar ab und zu den Verdacht, ich sei aus Versehen in das Feuilleton der FAZ gerutscht,
Hmmm... War das jetzt ein Kompliment oder genau das Gegenteil? Es gibt so Fragen, die stellt man sich besser gar nicht erst. :zwinker2:
Weiterhin wünsche ich Dir eine gute Erholung vom Lauf und eine baldige Genesung von der Erkältung, die Du Dir in der letzten Woche eingefangen hast!
Vielen Dank! Zum Glück hat sich die Sache inzwischen erledigt. Eingefangen hatte ich mir den Kram noch gar nicht mal in Frankfurt und auch nicht danach im Training, sondern erst am Dienstag, als ich bei Wind und Wetter anscheinend etwas zu lang mit dem Fahrrad unterwegs war, um alle möglichen Besorgungen zu machen. Jetzt weiß ich erst so richtig, was ein open window ist. Nach dem nächsten Marathon fahre ich am besten direkt in den sonnigen Süden.
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