Wäre der Krieg nicht gewesen, würde ich heute ganz woanders leben.
Wäre meine Mutter nicht von ihrem fremdländischen Freund schwanger geworden, mit dem sie bald darauf Schluß machte, wäre ich heute kein Iraker.
Wäre nicht die verbale Ohrfeige meines Hausarztes gewesen, als ich mehr als anderthalb mal so schwer war wie heute, würde ich heute nicht laufen, sondern wäre vielleicht längst tot und begraben, und Euch würden diese Zeilen erspart bleiben.
Was ich heute bin, ist ein Produkt reinen Zufalls, und deshalb wage ich nicht, zu behaupten, der Tod oder das üble Schicksal der einen ginge mir weniger nah als das der anderen.
Außerdem kenne ich mich gut genug, um froh zu sein, daß nicht ausgerechnet einer wie ich der Nabel der Welt ist. Ich bin dankbar für ein Leben, das an Inhalten so reich gesegnet ist, daß ich mich getrost mit einem Platz außerhalb seines Mittelpunktes begnügen kann. Darum ist es mir auch nicht möglich (und ich vermisse diese Möglichkeit auch gar nicht), Solidarität und Mitleid mit anderen nach Maßgabe Ihrer Ähnlichkeit mit mir zu bemessen.
Damit will ich niemanden kritisieren, dem die Opfer der Anschläge in Boston vielleicht näher gehen als die Opfer anderswo, außerhalb der westlichen Hemisphäre und der Laufszene. Ich verstehe das gut. Vorgestern bin ich den übelsten Marathon meines Lebens gelaufen. Ich war geistig und körperlich völlig am Ende und hätte wohl noch meinen eigenen Namen vergessen, wenn er mir nicht fortwährend von völlig unbekannten Menschen zugerufen worden wäre. Ich kenne die Zieleinläufe mit ihren dichten Spalieren aus jubelnden Zuschauern, die glücklichen Gesichter, wenn es geschafft ist und all das, und ich lebe ja auch dafür. Das alles ist mir besonders nah, und als ich die Übertragung vom Boston-Marathon anschaute, wurde ich gewissermaßen eins mit Läufern und Zuschauern.
Aber wenn ich ehrlich in mich hineinhorche, stelle ich fest, daß mich die Anschläge beim Boston-Marathon vor allem deshalb so überproportional bewegen, weil sie Teil genau dieser Welt sind. Ich bilde mir zumindest ein, daß ich meine Phantasie nicht sehr bemühen muß, um mir vorzustellen, was da geschehen und wie den Betroffenen zumute ist. Ich bin eben Insider.
Und gerade das empfinde ich als trügerisch. Denn es kommt uns nicht zu, selbst zu wählen, wer unsere Nächsten sind. Die kommen von sich aus auf uns zu und nehmen uns in Anspruch. Man muß den Erzähler des
Gleichnisses vom barmherzigen Samariter ja nicht gleich für einen Übermenschen halten, um die kleine Geschichte überzeugend zu finden.
Wie gesagt, kritisieren will ich niemanden hier. Ob Betroffenheit oder Zynismus - das sind alles Reaktionen, die mich z.T. abstoßen, die aber zugleich legitim sind. Wer hier mitdiskutiert oder zumindest mitliest, ist doch wohl zu sehr persönlich involviert, um immer der Gefahr entgehen zu können, daß der Eindruck entsteht, er/sie wolle sich mit der eigenen Meinung profilieren und über den noch nicht gegrabenen Gräbern der Opfern einen persönlichen Flamewar austragen. So vorsichtig kann man wohl kaum formulieren, daß niemand Anstoß nehmen kann. Wenn Menschen gewaltsam ihres Lebens oder ihrer Gesundheit beraubt werden, ist das zu monströs, als daß irgendjemand hier für sich in Anspruch nehmen könnte, den Königsweg dafür zu kennen, wie man darauf angemessen reagiert. Also sollte man die Reaktionen anderer fairerweise als deren Weg respektieren, mit den Ereignissen irgendwie klarzukommen.
Eine Ausnahme vom Kritikverzicht gestatte ich mir allerdings: Ripple, was soll das? Mich irritiert nicht in erster Linie, daß Du vom Beten nichts verstanden hast. Das zwar auch, und das kann ich auch begründen, aber dafür könnte ich ja schließlich keinerlei Überzeugungskraft in Anspruch nehmen. Vor allem dann nicht, wenn eine Überzeugung solch apodiktischer Vehemenz formuliert wird, daß ich mich nur aus dem mir vorgegebenen Ruch der strukturellen Verlogenheit heraus mit ihr auseinandersetzen könnte. Und das ist mir einfach zu blöd. Nein, in erster Linie finde ich ärgerlich, daß Du aufgrund einer bloßen persönlichen Ansicht für Dich eine moralische Überlegenheit anderen gegenüber in Anspruch nimmst, die diese Ansicht nicht teilen.
So weit mein Beitrag. Der Thread ist ja ohnehin längst völlig verfahren, da werde ich es wohl kaum noch schlimmer gemacht haben.