Arabella123 hat geschrieben: 01.02.2023, 05:28
Hallo

Ich habe das Gefühl, ich dehne nicht richtig. Denn wenn ich vorsichtig (aufgewärmt) dehne, bringt es nichts, sobald ich aber nur ein wenig stärker dehne, bekomme ich Zerrungen und kann tagelang nicht weiterdehnen. Wie dehnt ihr schonend, aber gleichzeitig effektiv mit Fortschritten?
Hallo Arabella123,
ohne mich zunächst ins Für und Wider des "Dehnens" verstricken zu wollen, mich rein an das von dir Geschriebene haltend, befällt mich Unverständnis. Wie kann es sein, dass du aufgewärmt von "ein wenig stärker" dehnen Zerrungen bekommst? - Dehnen, um es zunächst mal mit meinem Verständnis zu unterlegen, bezeichnet einen Vorgang, bei dem man die betroffene Muskelgruppe oder -kette auf maximale Spannung bringt, ohne dabei in den wirklich schmerzhaften Bereich zu gehen. Hohe Spannung in so einer Muskelgruppe kann sich nach meiner Erfahrung durchaus "unangenehm" anfühlen. Wenn du dir dabei Zerrungen zuziehst oder anders ausgedrückt: Mikrotraumen im Muskelgewebe verursachst, die als Summenschmerz für Tage weiteres Dehnen vereiteln, dann gingst du zu forsch dabei vor. Also belasse es beim "weniger Dehnen", das schmerzfolgenfrei bleibt.
Darüber hinaus komme ich allerdings nicht umhin, dein Dehnen oder besser dessen Zielstellung zu hinterfragen: Was willst du eigentlich erreichen? Was bedeutet denn für dich "effektiv mit Fortschritten"? Ich dehne auch, über viele Jahre schon, Muskelbereiche, denen ich unterstelle zu Verkürzungen zu neigen. Dabei machte ich stets dieselbe Erfahrung: Beim Dehnen widersetzt sich das Gewebe zunächst. Durch Wiederholungen erreiche ich jedoch die Wiederherstellung einer maximalen Bewegungsamplitude. So weit, so schön. Beim nächsten Dehnen, fange ich jedoch genau dort wieder an: Leichte Bewegungseinschränkung, Widersetzlichkeit des Muskels (bzw. das Muskel-Band-Apparates) alsbald aufdehnen auf die gewünschte maximale Amplitude. Für mich ist das effektiv. Fortschritte erwarte ich keine, weil mehr als maximale Amplitude das Gewebe (auch das der Gelenke, über die ich übe) risikoreich stressen würde. Wohin sollen die von dir zitierten "Fortschritte" führen?
Im Grundsatz solltest du dir auch darüber im Klaren sein - das zeigt schon der Schlagabtausch hier in Forum -, dass Dehnen zu den am meisten von Fragezeichen, persönlichen Auffassungen und Unsicherheiten hinsichtlich wissenschaftlicher Erkenntnisse umrankten Feldern im Bereich körperlicher Konditionierung gehört. Über Jahre wurden Studien angestrengt, die zum Ziel hatten eine positive Wirkung des Dehnens auf die Verletzungsrate von Läufern nachzuweisen. Das schlug wohl fehl (so weit mein derzeitiger Sachstand). Nun sind Studien für sich betrachtet immer das Ergebnis der Auswahl der untersuchten Gruppen und natürlich auch der Fragestellung. Ungeachtet solcher Studien haben Dehnübungen in vielfältiger Weise Platz, wenn der Mensch sportlich oder rehabilitierend mit seinem Körper umgeht oder umgehen lässt. Physiotherapeuten denken aus ihrem Blickwinkel - sie haben in der Regel mit der Behebung orthopädischen "Störungen" zu tun - sicher anders übers Dehnen als der Rest der (orthopädisch beschwerdefreien) Welt.
Ich selbst messe dem Dehnen vor dem Ausdauertraining gleichfalls keine Bedeutung bei, halte es sogar für eher kontraproduktiv, so lange der Läufer beschwerdefrei ist. Ich hab auch schon vor Läufen meine "Gräten" ein bisschen unter Spannung gesetzt. In seltenen Ausnahmefällen, wenn da noch Reste von "muskulärem Unwohlsein" als Reaktion auf eine vorangegangenes hartes Training spürbar waren. Das würde ich jetzt nicht als ernsthaftes Dehnprogramm bezeichnen, eher als Versicherung meinerseits, dass die "Gräten" trotz zunächst unguter Signale einsatzbereit sind. Dehnen vorm Laufen, vor der Belastung, erscheint mir widersinnig. Dehnen wirkt dem Muskeltonus ("Muskelvorspannung" zur Herstellung der Leistungsbereitschaft) entgegen. Der Muskeltonus unterstützt neben anderen physiologischen Wirkungen (z.B. Hf und Blutdruck auf Arbeitswerte bringen, Gewebe durchwärmen, Sauerstoffversorgung des Gewebes verbessern) die Herstellung der Leistungs-/Belastungsbereitschaft des Körpers. Der Muskeltonus erhöht seiner Natur nach den Widerstand, den die Muskelgruppe dem Stretch-Versuch entgegensetzt. Wer dann auf Biegen und Brechen dagegen arbeitet, erreicht genau das: Brechen. Zudem begünstigt eine mehrminütige Unterbrechung nach dem Dehnen das Wiederauskühlen, die zuvor mühsam auf "Leistung" gestellten Körperparameter (siehe oben) sinken wieder auf niedrigere Bereitschaftswerte.
Infolge Muskeltonus verfehlt Dehnen auch seine Wirkung unmittelbar nach dem Laufen. Dann ist der Muskeltonus noch eine Weile so hoch, dass die beabsichtigte Aufdehnung auf Maximalamplitude nicht oder nur risikobehaftet erreicht wird. Dehnen ist ein Teil des Konditionstrainings (Zielrichtung "Steigerung der Beweglichkeit"), der mit zeitlichem Abstand zu anderen Konditionsübungen (Ausdauer, Kraft, Kraftausdauer, u.a.) durchgeführt werden sollte. Ob die gewünschte Wirkung dabei eintritt, ist wie bereits dargestellt, umstritten. Wobei das durchaus daran liegen kann wer und unter welchen Voraussetzungen diese "gewünschte Wirkung" definiert. Ich wiederhole mich: Viele Physios gehen dabei von anderen Voraussetzungen und Erfahrungen mit ihren erkrankten/verunfallten Klienten aus als etwa beschwerdefreie Läufer.
Die Wissenschaft ist auch hinsichtlich des Dehnens ein tastender, unsicherer Kantonist. Früher dehnte und arbeitete man muskulär mit dynamischen Übungen. Das wurde in der Folge von Medizinern wegen der damit angeblich einhergehenden Verletzungsgefahr eher abgelehnt bis verteufelt Heute schlägt das Pendel wieder in die andere Richtung aus, man favorisiert eher wieder die Dynamik bei der Ausführung. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse unterliegen einer gewissen Dynamik ...
Letzten Endes ist jedoch subjektiv betrachtet richtig, wobei man sich gut fühlt. Ich würde mit meiner Auffassung zum Dehnen - das habe ich teils früher so praktiziert, womöglich auch hier im Forum - nicht missionarisch hausieren gehen. Wenn jemand bei und nach maßvollem Dehnen ein gutes Gefühl hat, dann soll er es tun. Egal wann. Du hast dieses "gute Gefühl" anscheinend, wenn du nach dem Aufwärmen vorsichtig dehnst. Es verkehrt sich jedoch ins Gegenteil, wenn du forscher zu Werke gehst. Dabei versuchst du "Fortschritte" zu erreichen, die du nicht näher definierst. Ein Ratschlag kann allerdings nur sein: Lass es bleiben. Die Reaktion deines Körpers zeigt dir, dass dein Vorgehen falsch ist.
Ich wünsche dir künftig weniger Ratlosigkeit im Hinblick aufs Dehnen.
Gruß Udo