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Der Fichtelgebirgsmarathon 2023 – mehr als „42 Km Freizeit“

Der Fichtelgebirgsmarathon 2023 – mehr als „42 Km Freizeit“

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Liebes Forum,

ich habe schon einige von Euren schönen Berichten gelesen und Ideen für Läufe bekommen. Lieben Dank dafür. Da mir der Fichtelgebirgsmarathon am vergangenen Wochenende so gut gefallen hat und dieser, wie die Veranstalter sagen, gut und gerne noch das Doppelte an Läufern vertragen würde, steuere ich nun zum ersten Mal auch einen Text bei, der sich dann zu Rolands Bericht gesellen kann. :)

Irgendwann habe ich mal von einem Marathonbuch für Frauen gehört, das den schönen Untertitel „42 Km Freizeit“ trägt [Quelle: Anike Bader 2009]. Ein bisschen empört (weil: müssen Frauen wirklich erst einen Marathon laufen, um mal ein paar Stunden „Freizeit“ zu haben) und ein bisschen belustigt (weil: ja, Lohnerwerbsarbeit ist ein Marathon für uns nicht) haben Gigi und ich uns den Namen dann gleich für ein paar Läufe ausgeborgt und bald festgestellt, dass er doch einen winzig kleinen wahren Kern enthält. Denn in einem Leben mit zwei Jobs und drei Kindern ist es – das gilt in unserem Fall aber für Mutti und Vati gleichermaßen – nicht immer leicht, sich regelmäßig für drei, vier Stunden aus allem herauszuziehen, um durch die Wälder Südniedersachsens zu joggen. Umso schöner, wenn es mit etwas (naja, generalstabsmäßiger) Planung und viel (sehr viel) Toleranz dann doch geht und als gemeinsames Ziel auch zusammenschweißt. Also suchten wir dieses Jahr wieder nach einem Waldlauf im Sommer, an einem Samstag, damit wir bei den hilfsbereiten Großeltern gleich ein ganzes Wochenende Kinderbetreuung buchen konnten und machten uns am 30.06.23 auf den Weg ins Fichtelgebirge.

Der Freitag ist sehr regnerisch und als wir abends in dem kleinen Örtchen Bad Alexandersbad ankommen, dampfen die Wälder. Im „Haus des Gastes“, das nur hundert Meter von unserem Hotel entfernt liegt, können wir noch am selben Abend die Startunterlagen abholen. Wir werden vom Orga-Team aufs Allerherzlichste empfangen und mit reichlich regional hergestelltem Vollkornbrot beschenkt. Peter zeigt uns noch einmal das respekteinflößende Streckenprofil und versichert, entgegen der Behauptung Komoots, dass es doch eher 800 als 600 Höhenmeter seien, die uns am nächsten Morgen erwarteten. Verlegenes Hüsteln, schweres Schlucken, wird schon schiefgehen. Der nächste Morgen schenkt uns kühle Sonnenstrahlen und ein angenehm laues Lüftchen. Kurz vor Start versammeln sich die Läufer:innen bei den Schlossterassen. Alle erscheinen mir drahtig, athletisch, perfekt ausgerüstet. Meine 10 Jahre alte Laufhose weist an einigen Stellen schon bedenkliche Abnutzungserscheinungen auf und stimmt mich nachdenklich. Bevor ich aber zu sehr ins Grübeln komme, wird schon gemeinsam heruntergezählt und der Startschuss fällt.

Wir laufen los, die ersten Kilometer über Felder fliegen dahin. Die Veranstalter haben die ganze Strecke liebevoll mit kleinen Hinweisen auf Sehenswürdigkeiten versehen, so dass man nicht vergisst, auch nach links und rechts zu blicken und die Landschaft zu genießen. Bald erreichen wir den Wald, sehen einen runden Stein, aus dem aufgrund natürlichen Wasserdrucks eine Wasserfontäne spritzt und passieren den Steinbruch. Immer wieder geht es auf und ab und ab und auf. Das ist anstrengend, aber auch sehr abwechslungsreich. Das Läuferfeld entzerrt sich während der ersten fünfzehn Kilometer. Ich finde daher zwar dieses Mal niemanden für ein längeres Pläuschchen, kann dafür aber ausgiebig Vogelgezwitscher studieren bzw. den guten Vorsatz fassen, mich endlich einmal intensiver damit zu beschäftigen. Irgendwann werden die Kinder Fragen haben, wenn wir durch den Wald gehen und ich kann ihnen nicht jeden Vogel als Zilpzalp verkaufen.

An jeder Verpflegungsstation warten liebe Leute, die alle, die vorbeikommen, enthusiastisch beklatschen. Bald schon rückt die 20 Km-Marke in Sicht. Es geht für kurze Zeit raus aus dem Wald auf eine asphaltierte Straße, die schon bergab Angst vorm Wiederrauflaufen macht. Zum Glück stehen vereinzelt Leute am Rand und schicken einem Kraft und Zuversicht mit auf den Weg. Einer schwingt Kuhglocken. Dann kommen mir die ersten Marathonis entgegen, welche den Wendepunkt offenbar schon hinter sich gelassen haben. Der erste von ihnen kann noch lächeln, stark! Die erste Frau hat auch noch Power. Go, Girl! Bald kommt mir auch Gigi mit ausladenden Panthersprüngen entgegen, brüllt eine Nettigkeit, die ich aber nicht verstehe, abklatschen. Mist, es ist doch noch länger hin zur Kehre. Aber es kommen einem jetzt immer mehr Läufer:innen entgegen, denn der Startschuss der Halbmarathonis, die um 10:45 Uhr am Wendepunkt starteten, ist gefallen. Es wird also bunt und lebendig auf der Strecke und man wirft sich aufmunternde Worte zu oder reckt die Faust zum kämpferischen Gruß. Blick auf die Uhr, ich bin zu schnell und mein Puls zu hoch, selbst bergab. Besser das Tempo etwas drosseln.

Bald nach der Kehre wartet nämlich das Ungeheuer, der Asphaltberg, wieder auf uns. So verflüchtigt sich die Freude über die geschaffte halbe Strecke schnell und macht existenziellen Selbstzweifeln Platz. Etwa auf der Hälfte des Berges, den ich auf allen Vieren hochkrieche, schallt aus den Boxen des Kuhglocken-Mannes Highway to Hell. Meine Luftgitarre muss ich leider stecken lassen, obwohl ich die passende Musikauswahl schätze. Dann ist es endlich geschafft und der Wald nimmt uns wieder unter seine kühlen Fittiche. Ich sehe ein Zelt mit grillenden Metallern, die aber kurioserweise keine Musik hören. Dabei würde doch jetzt nichts besser passen als Inhale/Exhale von Nasum. Aber: kein Atem mehr übrig für Musikwünsche. Der Wind frischt ein wenig auf. Danke, liebe Natur. Schon liegen 25 Km hinter uns. Jetzt ist es weniger als die Hälfte. Moment mal, noch fast die Hälfte…?!

Km 27 entpuppt sich überraschenderweise als der schlimmste. Der Asphaltberg liegt zwar schon hinter mir und ich bewege mich auch irgendwie in richtiger Richtung durch den Fichtelwald, aber leider sind meine Beine nun zwei 100-Tonnen-Baumstämme, die sich weder beugen noch strecken lassen. Habe ich überhaupt noch Füße? Ich weiß es nicht. Oh nein, jetzt zwackt auch noch das linke Außenband, das mir schon vor dem Lauf Sorgen bereitete und dann noch das rechte Knie. Gleichzeitig ist niemand mehr zu sehen. Wo ist die Läuferin hin, die mich mit ihrem locker-trabenden Laufstil auf dem Hinweg lange Kilometer motiviert hatte? Sie hat mich nun endgültig hinter sich zurückgelassen. Hinter mir höre ich noch nicht einmal mehr entfernt jemanden schnaufen. Ich bin allein. Immer wieder Anstiege. Sind wir wirklich die gleiche Strecke auf dem Hinweg bergab gelaufen? Ich muss an Michael Ende und seinen liebenswürdigen Straßenkehrer Beppo denken, der an einer Stelle des Buches sagt:

„Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man. Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst zu tun und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen. Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss immer nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut.“ [Quelle: Michael Ende: Momo (1973)]

Ok. Ein Besenstrich, ein Atemzug, weiter. Ich bin aus der Puste, ich kann nicht mehr, aber es geht weiter. Km 28: Mein Hirn scheint nun vollständig entleert zu sein. Habe ich eben noch in alten Kinderbüchern schwelgen können, wiederhole ich jetzt nur noch einzelne Wörter im Kopf, Fichten, Nadeln, Tannen, Zapfen… Ohne Sinn, ohne Wertung. Der Boden ist durch den Regen am Vortag weich, aber nicht matschig. Er federt die schwerfälligen Schritte freundlich ab. Es riecht nach frisch gesägtem Holz. Fichten, Nadeln… Der Wald ist ein grünes Meer, das ich durchwate. Tannen, Zapfen… Ich erinnere mich, dass es besser wird, wenn erst einmal die 30, oh wenn erst die 32 geschafft sind. Wenn man von 10 verbleibenden Km herunterzählen kann, wird es gut, dann macht es Freude, wie Beppo sagt. 10 Km bin ich doch schon unter schlimmeren Bedingungen gelaufen! Z.B. bei Dauerregen in einen Müllsack eingehüllt in der dem eigentlich an Verpflichtungen überquellenden Tag abgetrotzten Mittagspause auf dem Sportplatz, flüchtend vor Wildschweinen oder auch einfach nur hungrig, durstig, gestresst, mies gelaunt, bocklos. Und genau das bleibt mir hier im Fichtelgebirge alles erspart: Wir laufen bei schönstem Wetter, freundliche 18 Grad, mit etwas Sonne, ein paar Wölkchen. Die Verpflegungsstationen tauchen an genau den richtigen Stellen auf und sind nicht nur bestens mit Getränken und Snacks, sondern auch mit überaus lieben Menschen ausgestattet, die einen durch ihre freundliche Art jedes Mal einen Motivationsschub mit auf den Weg geben. So hangle ich mich durch mein persönliches Tief von Station zu Station und lasse es schließlich ganz hinter mir.

Km 35: Hallo, liebe Bänder, ihr seid ja alle noch dran, der untere Rücken fühlt sich an wie ein zusammengestauchtes Schifferklavier, aber irgendwie werden wir alle zusammen ankommen, denke ich. Ich erreiche wieder die Felder, jetzt sind es nur noch ein paar Kilometer. Stärkung an der Verpflegungsstation. Der Wind trägt die Lautsprecheransagen von den Schlossterrassen herüber. Es ist jetzt wirklich nicht mehr weit. Etwas erhöht kann ich nun sogar das gelbe Schloss sehen. Am Ende geht es nochmals ein paar Treppen rauf, fies, die hatte ich in der Zwischenzeit ganz vergessen. Dann ist es geschafft. Nach vier Stunden und vier Minuten erreiche ich voller Freude das Ziel, werde herzlich empfangen und mit der schönsten Medaille bedacht: eine kleine Holzscheibe mit Baumrinde. Gigi, der nach knapp dreieinhalb Stunden angekommen war, wartet auch schon im Zielbereich und wankt mit zwei kühlen Weizen auf mich zu. Wir setzen uns glücklich und zufrieden auf die Treppenstufen, trinken Bier und schauen dem bunten Treiben zu. Eine Bratwurst hilft über den ersten Muskelkaterschmerz hinweg. Die Siegerehrung verläuft wieder sehr herzlich, wir schaffen es in unserer Seniorenaltersklasse sogar aufs Treppchen, juhu, und werden mit einer Urkunde und Geschenken bedacht. Nach einer Weile mit nettem Geplauder staksen wir selig ins Hotel zurück, das mit Pool und Sauna beim Auflockern des malträtierten Bewegungsapparates hilft.

Am Ende waren es weit mehr als „42 Km Freizeit“, die uns der Fichtelgebirgsmarathon geschenkt hat. Da waren die vielen kleinen, die schnellen, die langsamen, die langen Läufe zu allen erdenklichen Tag-, Nacht- und Zwischenzeiten, an den unterschiedlichsten Orten, die uns in den vergangenen Monaten stetig begleitet haben und nicht zuletzt das Wochenende um den Marathon selbst, das für uns wie ein Urlaub war. Vielen lieben Dank an das überaus freundliche Orga-Team und an alle Helferinnen und Helfer für einen perfekt organisierten, liebevoll gestalteten und absolut schönen Marathon-Lauf. Wir haben uns gefreut, auf diese Weise das Fichtelgebirge kennenlernen zu dürfen und freuen uns auf ein Wiedersehen, vielleicht schon im nächsten Jahr! Infos zum Lauf, Fotos und weitere Eindrücke findet Ihr auf der Homepage: https://fichtelgebirgsmarathon.de/

Beste Grüße
Eure Momo
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