Die Gefahr, dass wir heute besonders schwitzen werden besteht aber sicher nicht.
Um 07.00 Uhr geben wir unsere Kleidersäcke ab und machen uns danach durch das Gewühl der Läuferinnen und Läufer auf den Weg in den Startblock C. Am Eingang wird eisern kontrolliert. Ohne entsprechenden Hinweis auf der Startnummer gibt es für den jeweiligen Sektor keinen Eintritt.
Langsam wird es hell und ein paar zaghafte Sonnenstrahlen malen blitzende Flächen auf die Hochhäuser vor uns. Der wie ein überdimensionaler Bleistift zugespitzte Prudential-Tower steht vor uns, das Carbon and Carbide Building, mit seiner vergoldeten Turmspitze einer der ältestens Wolkenkratzer Chicagos, ist zu sehen und und und.
Links von uns schimmert "The Cloud Gate". Die liebevoll "The Bean" benannte Skulptur von Anish Kapoor wiegt knapp hundert Tonnen und spiegelt mit ihrer perfekten Stahloberfläche die Umgebung ab. Ein wunderschönes Gebilde, das den Spieltrieb und die Phantasie der Menschen anregt und bei den Besuchern fröhliche Stimmung hervorzaubert.
Die Wucht der Bauten vor uns wird von der positiven Stimmung rings um uns überstrahlt. Alle sind gut drauf und warten geduldig. Ich glaub die Amis können sogar diszipliniert frieren

Ehrlich gesagt hätte ich lieber 15 Grad. Ganz ehrlich bereue ich es auch, nicht mehr trainiert zu haben. Mein Sommer war zwar angefüllt mit Sport, meine Konzentration galt aber zu 90 Prozent dem Tennis.
Aber jammern gilt nicht! Ich habe mir den Lauf ja schon vor eineinhalb Jahren eingebildet. Den ganzen September durch habe ich brav Kilometer gemacht. An eine besondere Zeit ist aber nicht zu denken, denn meine beiden längsten Läufe in der direkten Vorbereitung waren jeweils 26 km.
Jörg ist zwar um einiges besser in Form als ich, hatte aber in der Nacht von Freitag auf Samstag mit einem gehörigen Krampf in einem Unterschenkel zu kämpfen und es steckt ihm noch dazu eine überwundene Verkühlung in den Knochen. Wir wollen also gemeinsam laufen. Aber: Geht es Jörg besonders gut, kann er davonziehen wann immer er will.
Ich checke mein System: Bis auf die Gänsehaut ist alles im Normalzustand und ich bin auch ausgeruht. Die innere Uhr zeigt schließlich auch schon 14.30 Uhr.
Gudrun und ich sind am Freitag kurz nach 14.00 Uhr mit British Airways (über London) am Chicago O'Hare gelandet. Heike und Jörg waren (mit United Airlines von Frankfurt aus) kurz nach uns da.
Gemeinsam fuhren wir mit dem Taxi in das Belden-Stratford Hotel am Lincoln Park. Ein stilvoll eingerichtetes Hotel, wie man es sich nur wünschen kann. Wunderschöne Zimmer, mit Bad und voll eingerichteter Küche und Blick auf den Lake Michigan, Frühstück gibt es auch inklusive - und das für 5 Nächte um 400 Euro

Außerdem verläuft die Marathon-Strecke zwei Mal fast direkt am Hotel vorbei.
Wir witzeln noch ein bisschen herum, dass wir im Falle überwältigender Müdigkeit entweder bei km 9 oder kurz nach km 15 einfach aufhören und aufs Zimmer gehen könnten. Aber die Pflicht sagt:

"Ach, haben wir das tatsächlich behauptet

Als dann noch der innere Advokat damit auftaucht

Der Columbus Drive, dessen breite Fahrbahn kurz nach Beginn gleich unter den Hochäusern durchläuft, lässt es zu, dass man von Beginn an ohne Sorge laufen kann. Keine Staus, kein Gedränge. Einfach herrlich.
Sogar in der langgezogenen Unterführung stehen Zuseher und wieder über der Erde, an der Einmündung in die Grand Avenue ist das erste Mal der sprichwörtliche

Rund 1,5 Millionen Zuseher hat der Chicago Marathon schätzungsweise. Und fast alle von Ihnen machen permanent Krach. Musik, Ratschen, Trommeln, Pfeifen, alles was tönt, quietscht, oder zumindest scheppert, wird aufgeboten. Aber auch Tafeln und Plakate, mit Köpfen des/der Lieben drauf. Geschminkte Gesichter, schräge Hüte, rosarote Hasenohren von Energizer; es gibt alles was man sich vorstellen kann - und ganz amerikanisch - noch ein bisschen mehr.
Der erste Abschnitt des Laufes führt im leichten Zick-Zack durch das Zentrum: über die berühmte State Street, den Jackson Boulevard und dann nach Norden über die LaSalle Street hinaus zum Lincoln Park. Weiter über den Stockton Drive, vorbei am Lincoln Zoo, der nicht nur das ganze Jahr geöffnet hat, sondern auch noch frei zugänglich ist, weiter an unserem Hotel vorbei, wo Gudrun und Heike auf uns warten und Fotos machen und danach über den Stockton Drive und den Sheridan Drive bis zum nördlichsten Punkt, die Addison Street, die praktisch die Wende wieder hinein in die Stadt markiert.
Auch wenn mal weniger los ist am Straßenrand: Es gibt immer was zu sehen. Die Broadway Street und die Clark Street und die ganze Umgebung markieren eine grüne Wohngegend mit vielen kleinen Geschäften und schönen Restaurants. An der Ecke Clark/Belden liegt auch das "Ranalli's", das nur 200 Meter vom Belden-Startford Hotel entfernt ist und von uns gleich als "Stammlokal" auserkoren wurde.
Gudrun und Heike sind noch einmal da und Drücken uns die Daumen für unseren noch weiten Weg durch Chicago.
Sedgwick Drive und Wells Street folgen. Links vor uns überragt der Hancock Tower die anderen Hochhäuser. Am Samstag haben wir die Fahrt in das 94. Stockwerk gemacht um den unglaublichen Ausblick über die Stadt und den Lake Michigan zu genießen. Der etwas höhere Konkurrent, der bekannte Sears Tower (er heißt mittlerweile Willis Tower) taucht ebenfalls am Horizont im gerader Linie vor uns auf.
Dann geht es zum zweiten Mal über den Chicago River mit seinen wunderschönen Zugbrücken, die für größere Boote geöffnet werden können.
Faszinierende Bauten, wie den neugotischen Tribune Tower, das Wrigley Building, oder auch die an Maiskolben erinnernenden Marina Towers und das benachbarte House of Blues lassen wir hinter uns um wieder in "The Loop" einzutauchen; den Stadtkern, der von der "El", der auf stählernen Stelzen geführten Metro, umkränzt wird. El steht bei den in Abkürzungen verliebten Amerikanern übrigens für Elevated. Ein Runde mit ihr zu drehen, lohnt sich. In Höhe des ersten, zweiten Stockwerks durch die Straßen zu kurven und dabei anderen Leuten beim Arbeiten zuzusehen, das hat was.
Aber heute arbeiten wir im wahrsten Sinne des Wortes selbst schwer. Im knappen Bogen geht es über die Hubbard und die Orleans Street weiter in Richtung Süden und dann gen Osten in die langgezogene Adams Street.
Zahlreiche Neighborhoods wie Greek Town, Little Italy, Pilsen (wo es inzwischen total spanisch zugeht) und China Town liegen in der zweiten Hälfte des Marathon vor uns.
Jörg und mir geht es gut. Soll heißen: Jörg zieht immer etwas und ich steh immer etwas auf der Bremse

Wir traben also locker weiter, unterhalten uns gut und genießen die Stimmung, die an vielen Stellen einfach sagenhaft ist. An den zahlreichen Versorgungsstellen ist jedes Mal der Bär los. Selbst die HelferInnen feuern uns an und freuen sich über jeden Läufer, der Ihnen etwas abnimmt.
Die Charity Block Party an der Adams Street ist der blanke Wahnsinn. Dort haben zahlreiche Organisationen - von der Kinderhilfe bis zur Krebsvorsorge - ihre Infostände. Und wieder stehen Tausende ZuseherInnen an der Straße und machen Party. Dabei ist der südöstliche Abschnitt der Strecke gar nicht soooo dicht bewohnt. Aber es gibt nur ein paar ganz kurze Abschnitte, an denen keine Menschengruppen stehen.
Im Stadtteil Pilsen herrscht Spanisch vor und an jeder Ecke spielt die Musik.
Chinatown besteht aus typisch amerikanischen, aber auf chinesich getrimmten, Häusern. Über die Wentworth Avenue und die 33rd Street nähern wir uns der 35th Street, die die Wende zurück in die Stadt und hin zum Ziel markiert.
Der kurze Abschnitt der 33rd ist fast komplett beschallt. Ein Typ in Elvis-Verkleidung mimt den King und singt live. Der Mann hat eine Mörder-Stimme, gegen die unsere diversen Möchtegern-Superstars glatt einpacken können

Viel zu schnell sind wir durch den Abschnitt - obwohl wir inzwischen langsamer geworden sind. Jörg ist vorsichtig geworden, weil er seine Beinmuskulatur spürt. Bei mir hat sich nur eine allgemeine Ermüdung angeschlichen. Aber wir sind guter Dinge, dass wir den Chicago Marathon durchlaufen können.
Die letzten drei Meilen geht es auf der Michigan Avenue stramm Richtung Norden. Im Hintergrund leuchten uns schon die Hochhäuser der City entgegen.
Es ist zwar nicht warm geworden, aber bei 6 bis 7 Grad und immer wieder Sonnenschein macht das Laufen noch immer gewaltig Spaß.
Zuerst queren wir noch ein Gewirr aus Highway-Brücken und Unterführungen um dann über den eher ruhigeren Abschnitt der Straße zu laufen. Hier stehen die Marathon-Fans "nur" in lockeren Gruppen und treiben uns mit motivierenden Sprüchen vorwärts.
Vorbei geht es auch am McCormick Place, einem der größten Kongresszentren der USA, das ich schon vor zwei beruflichen Terminen her kenne. Eine Halle davon war am Freitag und am Samstag von der Marathon-Messe belegt.
Auf den letzten drei Kilometern nimmt sowohl die Bebauung als auch die Zuseherzahl stetig zu. Im scharfen Rechtsknick geht es schließlich auf die Roosevelt Road. Die Straße steigt zwar leicht an, aber die Menschenmassen links und rechts mobilisieren in den Läuferinnen und Läufern - und auch in uns - die letzten Reserven

Zack links geht es wieder in den Columbus Drive, der hier leicht abfällt und uns mit dem von zig-Tausenden gesäumten Zielbogen erwartet.
Wir reißen die Arme hoch - und durch sind wir. Wie wir nachher sehen werden, haben Jörg und ich wieder ein perfektes ex-aequo Rennen geliefert: 4.10.50 lautet unsere auf die Sekunde gleiche Zeit.
Im Zielbereich bekommen wir unsere Medaille und eine wärmende Folie. Dann schlendern wir langsam Richtung Kleiderabgabe, genehmigen uns auf dem Weg dort hin ein gutes Goose Island 312 (für Nicht-Kenner: ein Weizenbier aus Chicago), schnappen unsere Kleider um etwas Warmes überzuziehen und hocken dann noch eine halbe Stunde im Party-Bereich des Marathons vor einem Festzelt und lassen uns von der angenehm wärmenden Sonne anstrahlen.
Fazit: Ich freue mich riesig! Mit so wenig Training einen Marathon so rund abzuspulen, damit kann ich nur zufrieden sein. Dazu die tolle Atmosphäre eines in jeder Hinsicht perfekt organisierten Rennens - was kann man sich mehr wünschen?
Von Montag bis Mittwoch erkunden wir noch die Stadt: Das Art Institute of Chicago (mit einer wunderschönen Sammlung expressionistischer Malerei, aber auch von den Top-Künstlern der USA), das Field Museum of Natural History (mit dem größten erhaltenen T-Rex Skelett und einer hervorragenden Schau über die indianische Kultur), der Navy Pier und vieles andere stehen auf dem Programm.
Am Donnerstag Abend sind Gudrun und ich wieder in Wien gelandet. Mit einem wahren Berg schöner Erinnerungen, mit den Eindrücken einer sauberen und unerhört freundlichen Stadt und mit dem Erlebnis eines Marathons, der völlig zurecht zu den absoluten Weltklasseveranstaltungen gezählt wird.
Liebe Grüße
Wolfgang