DerC hat geschrieben:
Wenn Tempotraining das bessere Ausdauertraining ist, warum machen viele Läufer dann Phasen mit Grundlagentraining für die Grundlagenausdauer mit wenig oder gar ohne Tempotraining?
Mit Phasen meine ich hier Abschnitte von Wochen, nicht unbedingt einzelne Tage.
Die Beantwortung der obigen Frage möchte ich noch ein wenig zurückstellen zugunsten von Fragen, die etwas einfacher zu beantworten sein könnten:
Warum machen wir übehaupt relativ langsame und lockere Läufe? Wenn Tempotraining das bessere oder zumindest wirksamere Ausdauertraining ist, warum die Zeit mit dem langsamen Geschlurfe verschwenden, zumindest in der konkreten WK-Vorbereitung?
Erstens, geschlurft wird nicht.

Auch langsames laufen sollte technisch so sauber wie möglich ausgeführt werden, um das Verletzungsrisiko und die Belastung so gering wie möglich zu halten.
Zweitens macht das einigermaßen langsame und lockere Laufen vielen Läufern Spaß. Oftmal wird ja nach möglichkeit auch in der Natur gelaufen, so dass man sich über gute Luft freuen kann, vielleicht mal die Tiere des Waldes zu sehen bekommt und und und. Hat jetzt mit der körperlichen Trainingswirkung wenig zu tun, aber mit Tempotraining ist selbst für die, die es mögen, meist ein gewisser Stress verbunden. Möglicherweise ist das lockre Laufen also auch ein Stressausgleich, den wir Läufer brauchen - sicher nicht alle im gleichen Maß, aber Trainingskonzepte mit harten Tempoeinheiten an jedem Tag sind eher selten.
Nehmen wir an, der Körper halte es aus, über einen längeren Zeitraum täglich Tempo zu trainieren - es geht natürlich u. U. , wenn man nicht jeden Tag knüppelt und die Gesamtbelastung dem angemessen, ist, was man verträgt. Bevor jetzt Widerspruch kommt, stellt euch einfach eine sehr moderate Tempobelastung vor, sowas wie 5*200 WDHLäufe oder ein km im 10k Tempo am Ende eines lockeren Laufs von max 60'.
Also es geht, es gibt auch bekanntere Beispiele wie der Amerikaner Bob Schul, der täglich recht kurze Intervalle (wohl nie über 600m Länge der Teilstücke) trainierte und 1964 5000m Gold in Tokio gewann. Oder aktueller der Japaner Yoshihisa Hosaka (M60 WR im Marathon: 2:36), der afaik auch nahezu täglich dasselbe trainiert, wobei nahezu immer Tempo dabei ist.
Rein körperlich können manche Läuferalso sogar tägliches Tempotraining verkraften, aber wohl nicht alle. Die meisten werden wohl Erholung brauchen und die zwischen den Tempoeinheiten nur bei ruhigeren Einheiten finden. Diese lockeren oder langsamen Einheiten werden aber nicht gelaufen, weil ihre Trainingswirkung so toll ist. Es ist einfach in erster Linie eine Notlösung. Die langsamen Einheiten helfen weniger, aber sie helfen auch. An den Tagen kriegen wir nix anderes hin, ohne uns zu sehr zu ermüden, also laufen wir eben langsam. Denn wenn wir an den Erholungstagen gar nicht trainieren, werden wir insgesamt auf zu wenig Trainingsumfang kommen. (Natürlich kann auch Crosstraining oder ein sportfreier Tag zur Erholung nötig sein, gerade bei anfängern. )
Also:
Langsam laufen ist für die meisten Läufer ein notwendiges Übel, aber sicher keine ideale "Ausdauereinheit" im Sinne von höchster Wirksamkeit
Je mehr Spaß einem das langsame Laufen macht, desto weniger wird man das natürlich als "Übel" empfinden.
Das größte Hindernis, das ein häufigeres Tempotraining verhindert, wird oft nicht der Körper sein. Die meisten haben einfach kein Lust, jeden Tag rauszugehen und sich so zu fordern. Genausowenig haben viele Lust, jeden Tag langsam zu laufen. Der Mensch will meist etwas Abwechslung haben im Training.
Es hängt also nicht nur sehr stark von dem ab, was der Körper eines Läufers aushält, sondern auch von den mentalen Stärken und schwächen. Dabei kann eine Trainingsgruppe eine große Rolle spielen: Das Training in der Gruppe erleichtert vielen Läufern, öfter und härtere Tempo zu trainieren. Alleine fällt das vielen schwerer. Die Gruppendynamik kann aber auch dazuführen, dass man seinen Körper überlastet.
Wenn ein Hicham el Gerrouj ganz anders trainiert hat als ein Dieter Baumann, obwohl die 5000m Zeiten nicht so weit auseinander lagen, ist das also höchstwahrscheinlich nicht nur in unterschiedlicher Physis (Gerrouj deutlich schneller "von unten") begründet, sondern auch in einer unterschiedlichen Mentalität bzw Psyche.
Jetzt jammert vielleicht wieder einer, dass ich schon wieder mit der Weltklasse anfange. Das meiste Training was die Läufer hier trainieren, ist aber mehr oder weniger aus Weltklasse-Training abgeleitet, von Harbig bis Steffny, vom schwedischen Fartlek über Lydiard zu Daniels, Röthlin usw. Und wenn Otto Normalläufer die bestmögliche Laufleistung aus sich herausholen will, hat er ein Ziel mit vielen Weltklasseläufern gemeinsam.
Natürlich müssen wir eins beachten: Bei den "Ottonormalläufern" gibts ja fast keine "Normalen".

Da gibt es mehr Sorten, verschiedenerere Typen als in der Weltklasse, ein viel breiteres Spektrum als dort. Die in der Weltklasse haben alle ein Mindestmaß an Grundschnelligkeit, Technik und Talent gemein, auch eine gewisse mentale Stärke brauchten sie alle, um dort hinzukiommen.
Bei den Amateuren gibst alles von übergewichtigen, grundlangsamen Anfängern über kraftstrotzende, grundschnelle EX-Fußballer, "talentlose" Arbeiter bis zu untergewichtigen Ausdauerspezialisten. Also eigentlich logisch, das "Otto Normalläufer" mit einer deutlich anderen Trainingsmischung zum Ziel kommt als Du oder ich. Es muss noch deutlich mehr sinnvolle Trainingsvarianten geben als in der Weltklasse.
Trotzdem löst das seltsamerweise immer wieder Verwunderung aus, u. a. auch deshalb weil manche Trainer oder Autoren ein wenig so tun, als hätten sie allein seligmachende Lösungen für alle.
Ok, langsames Laufen eine notwendige Notlösung, die wir zwischendurch immer mal wieder zur Erholung brauchen können. Aber warum eine ganze Trainingshase von Wochen oder gar Monaten fast vollständig damit füllen?
Dazu später mehr ...
Gruß
C.