Hallo Mitläufer, Groupies und alle anderen Foris.
Hier mein Bericht über mein Marathon-Debüt. Bevor irgendwelche Beschwerden kommen: Ja, er ist lang. Aber ihr seid gewissermaßen nur Zweitverwerter. Ich hab` ihn in erster Linie für mich selbst geschrieben, weil man – gnädig, wie das Gedächtnis ist – alles so schnell vergisst. Eine Kurzversion würde lauten: Es war warm, es war hart, ich war kaputt – aber glücklich.
Als ich gestern Morgen um 6 Uhr nach ruhiger Nacht die Äuglein aufmachte, war es endlich soweit. Rund zwei Jahre nach meinen ersten mühsamen Laufversuchen im benachbarten Wäldchen war er gekommen, der Tag der Wahrheit. Aufgrund meiner Halbmarathon-Zeit vom Juli (knapp 1:43) und meiner 35er Läufe hatte ich mir eine Zielzeit von 3:52 gesetzt, was einem Schnitt von 5:30 entspricht.
Und so habe ich ihn erlebt, meinen ersten Marathon:
Um kurz vor neun mache ich mich nach einem letzten Blick zum Thermometer (frische 20 °C, typisches MüMa-Wetter eben!) mit dem Fahrrad von meinem Heimatort Roxel auf ins sieben Km entfernte Münster. Und schon auf dem Weg dorthin der nächste Schock: Die Bushaltestellen, an denen ich mich sowohl für den Hin- als auch den Rückweg (km 27 und 35,5) mit meinem persönlichen Betreuer Heinz verabredet hatte, werden von einem Power Point blockiert. Mir ist sofort klar, dass hier später etliche Zuschauer stehen werden, unter denen ich meinen Schwiegervater dann möglicherweise nicht ausmachen kann.
Auf dem Domplatz angekommen suche ich das Zelt des Sportmedizinischen Instituts der Uni Münster. Als Teilnehmer einer Studie über die Auswirkungen eines Marathons auf das Immunsystem soll ich dort nach dem Lauf zur Blutprobe erscheinen und will nun eigentlich meine trockenen Klamotten hier deponieren. Ich brauche nicht zu sagen, dass da um 9.30 Uhr noch kein Zelt steht. Ich verstecke meine Plastiktüte in einem Busch, leihe mir von einem Passanten ein Handy und rufe meine liebe Frau Elke an, die Heinz die neuen Treffpunkte durchgeben soll. Dann trolle ich mich zum Hindenburgplatz, wo sich der Startbereich langsam füllt.
Wenige Minuten vor dem Start beginnen plötzlich die Läufer um mich herum, rhythmisch zu klatschen. Mir läuft es eiskalt den Rücken runter. Ich schaue auf meine Pulsuhr und sehe Peaks von über 140. Die Aufregung. Dann zählen wir von zehn runter und jubeln, als Harald Norpoth den Startschuss gibt.
Jetzt zählt es: Zielzeit 3:52
Mein Puls schnellt rauf auf 180. Ich kann es nicht glauben. Doch der Rahmen um das stilisierte Herz meiner Polar beseitigt letzte Zweifel: Mein Herz rast wie wild. Ich liege fast dreißig Beats über dem Trainingspuls, den ich sonst bei einem Tempo von 5:30 habe und nur 24 Schläge unter meinem All-Time-High. Ich schreibe das weiter der Aufregung zu und gehe davon aus, dass sich das später auf ein halbwegs erträgliches Niveau einpendelt. Die Zuschauer links und rechts des ersten Kilometers klatschen uns zu und ich ringe ein wenig um Fassung.
KM 1 – 10: Ich habe mich offensichtlich richtig im Startfeld eingeordnet, werde kaum überholt und überhole selber kaum. Ich drücke jeden Kilometer ab, liege immer zwischen 5:25 und 5:35. Der Puls will nicht runter. Einzig positiv: Er steigt nicht. Ich habe leise Zweifel an der Richtigkeit meines Tuns. Meine Atmung ist aber okay, vier ein, vier aus. An den Verpflegungsstellen tauche ich regelmäßig meinen Schwamm ein und drücke ihn über dem Kopf aus. Das kommt gut. Die 10-Km-Marke passiere ich nach 54:56 min.
KM 10 – 20: Viel zu früh verspüre ich erste Ermüdungserscheinungen. Ich versuche, Panikgedanken zu unterdrücken, ziehe mir die ersten selbstgemischten Maltodextrin-NaCl-Wasser-Drinks rein und hoffe auf eine ähnlich positive Wirkung wie im Training. Bei km 15 scheinen auch die ersten Kohlenhydrate in den Muskeln anzukommen und ich schöpfe neuen Mut. Es geht raus aus der City und an der Strecke stehen nun weniger Zuschauer. Ich konzentriere mich auf meine Atmung, versuche die Augen geradeaus dorthin richten, wo irgendwann das Ziel kommen muss, in dem ich mich immer weniger sehe. Ich nehme vorsichtshalber Tempo raus, laufe nun einen Schnitt von 5:35. Meine Zielzeit habe ich längst auf vier Stunden korrigiert (mein Plan B, den ich mir vorher zurecht gelegt habe). Ich ahne bereits jetzt, dass ein Wunder passieren muss, wenn ich heute nicht gehen will.
KM 21 – 30: Ich erreiche das knapp zwei Km lange Teilstück meiner Hausstrecke und fühle mich doch so gar nicht heimisch. HM-Zeit: 1:57:23. Gott sei Dank steht Heinz wie verabredet bei Km 22 und drückt mir neue Verpflegung in die Hand. In Gievenbeck plötzlich wieder Menschenmassen, die noch dazu wie wild klatschen und rufen. Ich schaue mich um: Hinter mir die schon legendäre Kenia-Reserve mit ihren Baströckchen. Über diese rund zehn Mann starke Truppe habe ich schon im letzten Jahr als Zuschauer herzlich gelacht. Apropos Kenia: Mit dem Schatten ist es nun endgültig aus und ich nehme jetzt auch jede von den zahlreich aufgestellten Duschen mit. Irgendwo in meinen Asics schwimmen meine Füße. Dennoch sehe ich meine Chancen steigen, das Ziel zu erreichen. Denn jetzt laufen wir auf Roxel zu. Auf der Gegenseite kommt mir jemand in einem Clownskostüm entgegen. Sicher keine Funktionskleidung. Ich versuche, mir auszumalen, was sich unter seiner Perücke abspielt und rechne aus, dass er unter 3:30 laufen wird. Auf dem Weg vom Aatal hoch in den Ort sehe ich nun zahlreiche bekannte Gesichter, freue mich tierisch darauf, gleich vor unserem Haus herzulaufen. Die 30er Matte passiere ich bei 2:50:05. Ich bin aber nur noch rein rechnerisch auf 4-Stunden-Kurs.
KM 31 – 40: Ich laufe in die Lindenstraße und sehe bereits von weitem meine "Fans": Da stehen sie alle – meine liebe Elke, meine süße kleine Jana, meine Eltern, meine Kumpels und Nachbarn und auch mein Freund und Kupferstecher Kitche, der den MüMa im Vorjahr gelaufen ist und sich seitdem von 4:40 auf 3:39 verbessert hat. Nur ein Sturz von der Leiter vor sieben Wochen hat ihn davon abgehalten, heute die 3:30 anzugehen. Sie alle brüllen mir was zu, machen die Welle. Ich küsse meine Frau und meine Mutter und muss meine Tränen unterdrücken. Zuviel Unterstützung für einen, der so gar nicht gern im Mittelpunkt steht. Mit neuen Getränken und bewaffnet mit einem Waschlappen, den ich (wie ich später erfahren muss) meiner Frau auf dem Rücken ausdrücke, mache ich mich auf ins letzte Viertel der Strecke. Sollten Fragen nach meinem Puls aufkommen: 180. Ich verlasse die Lindenstraße, blicke mich zur Sicherheit noch einmal um, und tue nun endlich das, was ich durch konsequente Vorbereitung eigentlich verhindern wollte: Ich gehe. Der Worst Case ist eingetretenAber es muss jetzt sein, ich habe schlichtweg Angst, in einem der permanent aufheulenden RTWs zu landen. Ich rechne hoch: Sieben mal zwölf sind 84 plus 2:50 Std. und noch `ne Minute für den Rest, macht 4:15 Std., und nehme mir vor, zumindest weiter unter sieben Minuten zu bleiben. Mein Plan C würde dann vielleicht noch aufgehen: 4:12 Std. und ein Gesamtschnitt unter 6:00 min. Da ich weiß, dass das mit Gehen nicht zu machen ist, trabe ich wieder an. Mir ist zum Heulen. Aber ich brauche jeden Tropfen zum Schwitzen. Überall Wasserschläuche, Duschen, Wannen. Bei jedem Schritt sehe ich, wie das, was ich oben draufkippe, unten aus meinen Schuhen wieder herausschwappt. Jetzt durchlaufen wir das Roxeler Gewerbegebiet. Ich frage mich, wer um Gottes willen auf die Idee gekommen ist, die Strecke hier durchzulegen. Und plötzlich traue ich meinen Augen nicht mehr: Es wird *kollektiv* gegangen. Die triste Umgebung ohne Zuschauer scheint alle zu deprimieren.
Irgendwie schaffe ich es doch, bis ins Aatal hinunter zu joggen und verfalle unten angekommen beinahe gleichzeitig mit einem Läufer neben mir zurück ins Gehen. "Ist das nicht frustrierend?", spricht er mich an. "Ich habe acht Läufe über 30 km gemacht und nun muss ich schon seit Km 27 Gehpausen machen." Ich versuche mich zu erinnern, wie viele lange Dinger ich eigentlich gemacht habe, kann mich aber beim besten Willen nicht erinnern. Irgendwas zwischen sechs oder acht mal weit über dreißig jedenfalls. Wir sind uns einig, dass das zum Heulen ist. Ich frage ihn, ob er auch zum ersten Mal läuft. Er sagt: "Nein. Das ist mein elfter Marathon. Ich werde heute zum ersten Mal über vier Stunden brauchen." Ich möchte ihn dafür umarmen, finde nun meinen Seelenfrieden und beschließe, die letzten fünf Kilometer zu genießen. Von einem Kilometerschnitt kann man nicht mehr reden, da ich ja alle paar Hundert Meter gehe: alles so zwischen 6:30 und 7:17. Paradox: Mein Puls sinkt phasenweise auf 155 und kommt selbst im Laufen nicht mehr über 170. Meinen Seelenretter lasse ich zurück.
Die Kilometer über die Sentruper Höhe bringe ich irgendwie hinter mich. Ich möchte unter jeder Dusche stehen bleiben, gieße mir an den Verpflegungspunkten das Wasser becherweise über den Kopf und hoffe jedes Mal, dass es keine Cola ist. Ich bin jetzt auch sicher, dabei Zischgeräusche zu hören. Ich tropfe wie ein Kieslaster.
Die letzte Meile:
Ich glaube mich zu erinnern, dass ich die letzten zwei Km gelaufen bin. Bei Kilometer 41 passiere ich wieder den Aasee. Plötzlich ruft jemand hinter mir meinen Namen: "Das war Lui. Hallo Lui!" Ich kann die Stimme nicht zuordnen, reiße mich zusammen, hebe den Arm und schicke ein Victory-Zeichen zurück. (Ella, warst du das?)
Neben einem RTW schon wieder ein Läufer im Gras, um ihn herum hektisches Treiben. Von der Bühne an der Aegidiistraße höre ich den Moderator: "Hier die Nummer 39." Danke – wirklich eine nette Geste! Wieder zeige ich den klatschenden Zuschauern mit meinem nach oben gereckten Daumen, was ich von ihnen halte. Ich lasse mich jetzt ins Ziel tragen. Es ist so, wie alle vorher behauptet haben: Dieser Kilometer entschädigt dich für alles. Ich genieße jeden Schritt und reiße im Ziel die Hände so hoch es geht, also etwa bis zur Hüfte. Meine Uhr stoppe ich bei 4:11:52. Ein Helfer schaut mir tief in die Augen, scheint noch genügend Vitalzeichen zu entdecken, beglückwünscht mich und hängt mir eine Medaille um den Hals.
Ich hangele mich zum Getränkestand, nehme mir zwei Cola und zwei Iso und robbe zu einer der Bänke im Finisher-Bereich. Ich stürze das Zuckerzeug hastig runter und sehe dabei zu, wie es von oben in meinen Becher tropft. Gott sei Dank kommt es von *meinem* Kopf. Ich hole mir noch eine Banane, kaue den ersten Bissen so klein wie möglich und würge den klebrigen Brei hinunter. Oh Gott, ich merke, wie es zurück will. Ich schleiche zurück zur Bank, löse den Trinkgürtel, bringe schon mal die Medaille in Sicherheit. Und dann kann ich`s doch noch verhindern. Wäre mir auch peinlich gewesen. Wer weiß, was ich da für eine Lawine losgetreten hätte...
Nach einem endlosen Geschiebe und Gedränge vorbei an den Finisher-Shirt-Ständen (allererste Qualität, ich frage mich, wie die Veranstalter das bei dem Startgeld hinbekommen) hin zum Domplatz lasse ich noch einen Tropfen Blut im mittlerweile aufgebauten Zelt des Sportmedizinischen Instituts, finde meinen Beutel wieder, Tageslinsen raus, Finisher-Shirt an und – welch` Wunder – ich kann Rad fahren. Es tut sogar richtig gut. Besonders deshalb, weil ich auf dem Weg zurück nach Roxel etliche Sportskameraden sehe, die von hier aus noch einige Kilometer vor sich haben. Ich beschließe, sie nicht anzulügen und rufe ihnen daher auch nicht zu, dass sie gut aussehen.
Zu Hause warten dann noch einige meiner Fans, die sich mittlerweile am Grill gestärkt haben. Ich schüttle jedem die Hand und bedanke mich artig für ihre Unterstützung und jeden Glückwunsch. Nur einer von ihnen ist schon einmal einen Halbmarathon gelaufen und ich erspare ihnen daher die Details. Sie würden ohnehin nicht verstehen, wovon ich da rede. Ich nehme ihnen das auch nicht übel. Ich bin glücklich.
Fazit:
Der MüMa ist ein super Einstieg für Erstläufer. Die Orga ist einwandfrei. Die Startgebühr ist im Vergleich zu den großen Läufen in Hamburg oder Berlin absolut fair. Die Zuschauer sind spitze. Die Strecke hat nur leichte Mängel wie etwa die Passage im Roxeler Gewerbegebiet, die genau zum falschen Zeitpunkt kommt. Ich werde dieses Teilstück in eine meiner Trainingsstrecken einbauen, wie ich es irgendwo mal bei Steffny gelesen habe.
Im nächsten Jahr, am 11.09.05, 9.00 Uhr stehe ich wieder auf dem Hindenburgplatz, egal ob bei 15 °C und Nieselregen oder bei 30 °C und sengender Sonne. Ich bin infiziert.
Meine Pläne:
In diesem Jahr will ich noch meine Zeiten auf den Unterdistanzen verbessern. Gerne würde ich das Jahr mit einer 45er Zeit auf den 10er und einer 21er Zeit auf den 5er abschließen, bevor ich dann über den Winter fleißig langsame Kilometer sammle. Ein kleiner Frühjahrsmarathon wird vielleicht auch noch drin sein, obwohl ich – so Gott will – im März (und jetzt belohne ich alle, die bis hierhin durchgehalten haben, mit einer Extra-Info) zum zweiten Mal Vater werde und die Vorbereitung sicher nicht so einfach wird wie in diesem Sommer.
Guet goahn!
Lui
Hier alles über den Münster-Marathon.