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Ein aussichtsloses Ziel

Ein aussichtsloses Ziel

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Liebe Community,

in den letzten Jahren, in denen ich mein Training kontinuierlich intensiviert und systematisiert habe, fiel mir immer wieder auf, wie wichtig es ist, sich Ziele zu setzen. Als Münchner bietet sich mir eine unerschöpfliche Auswahl schöner Lauf-Strecken: durch den Englischen Garten – einer der größten Parkanlagen der Welt; entlang der Isar, zu den Schlössern und Seen oder in die Ferne der Natur.

Auch wenn mir die gewohnten Rundwege an der Isar Freude bereiten und ich dadurch gezielt Entfernungen ausweiten und Tempo zulegen kann, verlieren doch irgendwann die immer gleichen, erst bekannt, dann gewohnt gewordenen Strecken an Besonderheit. Und so finde ich, neben dem Ziel, einen Wettkampf zu bestreiten, ist es eine besonders beglückende Erfahrung, in die Ferne zu schauen und auf ein zunächst unerreichbar geglaubtes Ziel hinzutrainieren. Dabei wird der Sport nicht zum Selbstzweck genutzt, um körperliche Leistungsfähigkeit zu steigern, sondern als Mittel, eine besondere Erfahrung zu machen und damit ein hohes Ziel zu erreichen.

Bereits im späten Herbst des vergangenen Jahres, als meine wöchentlichen Runden kaum die 10 km überschritten, machte ich eine sehr schöne Erfahrung, die zur Quelle meiner Motivation werden sollte. Ich lief morgens in der Anstrengung eines wenig trainierten Läufer los und überwand mit Mühe und Not die 12 km-Marke. Um 9 Uhr kam ich dann erschöpft zu Hause an. Im Anschluss an diesen Lauf ging ich mit meiner Freundin zusammen in die Erdinger Therme: ein Wellness-Paradies sondergleichen. Warmes Quellwasser, leckeres Essen, viele große Becken im Innen- und Außenbereich, Wasserfälle und 25 unterschiedliche Saunen zum Relaxen und Wohlfühlen. Und bereits an diesem Tag merkte ich die Besonderheit der Entspannung, die entsteht, wenn man nach dem Joggen in warmes, sprudelndes Quellwasser geht. Während man normalerweise nach einem anstrengenden Lauf eine angenehme Ruhe und Entspannung verspürt, sobald man sich hinsetzt, hat das warme Wasser eine außergewöhnliche Wirkung auf die Muskeln und Glieder. Es fühlt sich prickelnd warm und tiefenentspannt an.

Und bereits damals, als meine maximale Leistungsfähigkeit mich höchstens 21 km zu tragen pflegte, malte ich mir die Illusion aus, in ferner Zukunft einmal die weite Strecke über ca. 30 km zur Thermenlandschaft zu Fuß zurückzulegen. Damals jedoch noch mehr Traum, als Realität, kitzelte es doch meine Lust hervor, spornte mich an und untermalte stets meinen Trainingsfortschritt.

Als das neue Jahr begann und dem Winter sowie der Kälte stets geschickt auswich, boten sich die idealen Voraussetzungen, regelmäßig joggen zu gehen. Erstmals verfiel ich einem Hype, der mich packte und zu immer höheren Leistungen motivierte. Samstags oder sonntags lief ich. Am frühen Morgen. Es gab keine Diskussion mit mir. Kein Wenn und kein Aber.
Angefangen um 8 Uhr morgens mit 10, dann 15 km, lief ich von Woche zu Woche früher los – lief immer weiter und schneller und erlebte dabei erstmals die Faszination, sich selbst gesteckte Ziele zu erreichen. Bekannte Strecken, die ich in den Jahren zuvor mit dem Fahrrad zurücklegte, eigneten sich plötzlich als Laufstrecke. Schlösser, Klöster und Seen standen auf der Liste. Und das Erlebnis, einen entfernt gelegenen Schlosspark nur mit der Kraft der Beine und mit dem Antrieb des Willens erreichen zu können, erfüllte mich mit Stolz und prägte sich euphorisch gefärbt in mein Gedächtnis ein. Ich merkte auf einmal, dass es mir nichts ausmachte, um 6 Uhr morgens aufzustehen und den Tag mit einem Lauf zu beginnen. Im Gegenteile: Tage, die derart begannen, entwickelten sich stets in eine positive Richtung, erfüllt von Gelassenheit, Ruhe und einer gewissen, angenehmen Bequemlichkeit.

Vergangenes Wochenende schien der große Tag gekommen zu sein. Alles schien perfekt: die Woche zuvor hatte ich Geburtstag, empfand also allen Grund, mir etwas Besonderes zu gönnen. Das Wetter wurde sommerlich warm und dem gewöhnlichen Wochenende schloss sich der Pfingstmontag als Feiertag an. Die Entfernung schien mir angesichts der Tatsache, mittlerweile mehrmals die 30 km überschritten zu haben, als realistisch überwindbar. Ich studierte mit Google Maps ausgiebig den Weg, sah zwar einigen Ungewissheiten entgegen (unbekannten Wegen, unsicheren Zugängen), wiegte mich aber in dem Optimismus und der Vorfreude, mein Ziel – auf welchen Wegen auch immer – erreichen zu können. Mit meiner Freundin vereinbarte ich, früh morgens um 6 Uhr loszulaufen und sie gegen 10 Uhr direkt vor der Thermenlandschaft anzutreffen. Bewusst rechnete ich ausreichend Zeitpuffer mit ein, da ich weder die Beschaffenheit der Strecken noch die genaue Entfernung vorhersehen konnte. Sie fuhr etwa gegen 9 Uhr los.

Als ich kurz nach 6 Uhr startete, waren die ersten Kilometer wie immer zum Eingewöhnen. Am Anfang eines langen Laufes habe ich zumeist schwere Beine und kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, weite Strecken zurückzulegen. Doch glücklicherweise verliefen zumindest die ersten 10 km auf Wegen, auf denen ich bereits öfter gelaufen bin – als Orientierung diente mir stets der Fluss.
Doch irgendwann, zunächst unmerklich, verflüchtigte sich jede Gewohnheit, die mir sonst immer Halt und Sicherheit versprach; die Reise und das Abenteuer steigerten unaufhörlich in ihrer symbolischen Wirkung. Ein freier Lauf in unbekannte Gefilde. Zunächst noch neben dem Fluss laufend, wich ich, ohne davon zunächst Kenntnis zu nehmen, langsam von ihm ab; lief an ersten Felder entlang, an einem Heizkraftwerk vorbei, in Wälder hinein. Die Musik schenkte mir Vertrautheit und bot mir zeitliche Orientierung – doch die Umgebung um mich herum spiegelte mir zunehmend Ungewissheit vor. Die Stadt im Außenbereich zeigte mir nun, was sie in sich verbarg. Zu diesem Zeitpunkt wurde mir mehr denn je bewusst, wie weit die einfache Vorstellung, die man über eine Karte gewinnt, von der Realität, dem praktischen Begehen, abweicht. Schaut man sich die Strecke zuvor auf einer Karte an, scheint der Verlauf eindeutig und unfehlbar: hier ein langer, gerader Weg, da ein Fluss, kurz darauf schneidet man eine Schnellstraße und kommt dann theoretisch auf direktem Wege zu einer Brücke kurz vor dem Ziel. Nur die Realität beim Laufen sieht ganz anders aus. Der Weg, den man in Sekundenschnelle auf einer Karte überfliegt, entwickelt sich während des Laufs zu einem stundenlangen Pfad der Ungewissheit. Himmelsrichtungen, die auf einer Karte unmissverständlich angeordnet sich, verlieren in der Praxis jede Bedeutung. Ich bin schon mehrmals 90° Kurven gelaufen, ohne mir dessen bewusst zu sein. Doch ab und zu hilft ein Blick aufs Handy, um sich wieder neu zu orientieren. Nach etwa 1,5 Stunden schwand allmählich die Leichtigkeit und Lustigkeit, zu der mich zunächst mein Ziel inspirierte. Der zuvor ausgemalte Weg zwischen einem Kanal und einem großen Stausee war leider unpassierbar, sodass ich erst einmal auf eine geteerte Straße ausweichen musste – und das, in der Erwartung, diese über 5-6 Kilometer nicht mehr verlassen zu können. Obwohl der Tag gerade erst die 8. Stunde überschritt, spürte ich die aufprallende Sonne auf meiner Haut; die aufkommende Wärme zog in meinen Körper, entzog mir Energie. Ich schwitzte und hetzte und freute mich über jeden kurzweiligen Schatten.

In meinem Laufrucksack hatte ich 2 Liter Wasser und einige Energie-Gels mitgenommen. Doch würden diese reichen? Ich dürstete, bekam einen trockenen Hals und musste fortwährend trinken, um den hohen Flüssigkeitsverlust durchs Schwitzen auszugleichen. Meine Läufer-Gels, deren Einnahme ich bereits im Vorhinein gedanklich auf der Strecke platzierte, gaben mir jedoch nicht den gewohnten Energieschub, der mich – wie sonst – weitere 8-10 km zu tragen pflegte. In Anbetracht der Wärme (es waren bereits annährend 25 Grad) funktionierte mein Körper nicht, wie ich ihn kannte – schon wenige Kilometer nach dem ersten Energie-Gel verlangte mein Körper nach dem nächsten. Zwar überwand ich nach einiger Zeit eisernen Willens die asphaltierte Straße und befand mich wieder auf Landwegen – im Umkreis von Bauernhöfen – doch traf mich plötzlich das nächste Unglück: die Kopfhörer fielen auf der einen Seite aus. Der rhythmische Antrieb, den die Musik unbewusst, aber in der Folge spürbar, in mir auslöst, war nun erloschen – und plötzlich war ich ganz mit mir alleine: an einem fernen Ort, ohne Musik, ohne die gewohnte Energie, einzig getrieben durch das Ziel durchzuhalten, diesen wunderschönen Ort zu erreichen, meinen stillen Traum zu erfüllen.

Ich gebe offen zu: Im weiteren Lauf kam ich an Stellen, die ich nur im Gehen zurücklegen konnte. Jedwede Steigung, im hellen, heißen Scheinwerfer der Sonne, konnten nicht mehr belaufen werden. Doch ich bemühte mich nach jeder kleinen Pause weiterzulaufen, durchzuhalten, neue Energie zu schöpfen. Meine 4 Gels, die ich auf dem Weg mitnahm, waren nach etwa 25 km aufgebraucht und ich versuchte meinem Körper mit Willen und Hartnäckigkeit etwas abzuverlangen, was er im Grunde kaum noch zu geben im Stande war; doch ich spürte, es könne nicht mehr weit sein, schuf mir unrealistische Illusionen über die bevorstehende Strecke, die sich spätestens mit Blick auf ein Straßenschild wieder entlarvten.

Doch irgendwann – durch Dörfer laufend – sah ich ein neues Schild: Thermenweg 3 km. Es war nur noch dieser eine Weg, über eine kleine Brücke führend, der mich direkt zum lang ersehnten und erträumten Ziel bringen sollte. In mir formte sich neue Kraft und Hoffnung. Meine Beine versagten ihre Dienste, doch der Wille trieb sie an – Schritt für Schritt. Immer wieder redete ich mir ein, noch wenige Minuten durchhalten zu müssen, um endlich ankommen zu dürfen. In meinem Kopf legte ich mir Abschnitte zurecht, sehr kleine Abschnitte, oft nur Bäume oder Bänke, Abzweigungen und Schilder. Währenddessen war es mir unbegreiflich, wie unendlich lang einem die kleinsten Strecken von gerade einmal 300 oder 500 Metern vorkommen können. Doch jedes Mal, wenn ich einen selbst erwählten Abschnitt passierte, schaute ich auf mein Handy, die Karte, ortete und orientierte mich; andererseits lobte ich mich fürs Durchhalten und sprach mir Mut zu, die letzten Meter noch durchzuhalten.
Plötzlich sah ich aus der Ferne zwei Kräne hinter einer Brücke. In der Thermenlandschaft wird derzeit um- und angebaut. Es kann nicht anders sein: die Therme muss hinter dieser Brücke liegen.

Und in diesem Moment sah ich auch schon das letzte, alles sagende, alles erfüllende Schild: Erdinger Therme: 1 km. Schlagartig ergriff mich ein unbeschreiblich schönes Gefühl, ließ mich alles vergessen, was ich zuvor noch durchlaufen und durchlitten habe. Meine Schwäche wurde gänzlich kompensiert durch die Gewissheit, dem großen Ziel nahe zu sein. Wie von Zauberhand bewegten sich nun meine Füße. Ich wurde immer schneller, stärker, spürte weder Schmerz noch Anstrengung. Ich unterlief die Brücke und blickte jetzt auf das Bild der Götter: die Erdinger Therme. Die mir vertrauten Häuser, die große Kuppel, die Rutsche im Außenbereich.

In diesem Augenblick war ich vollkommen fassungslos. Wie soll man beschreiben und nur annährend wiedergeben können, was es bedeutet, ein solches Ziel zu erreichen, eine solche Strapaze zu überwinden? Ich denke, viele von Euch kennen dieses Gefühl des uneingeschränkten Glücks, der tiefen Ergriffenheit, der Liebe zu allem. Wie ich diese letzten Meter auf die Therme zulief, spürte ich regelrecht, wie sich ein festsitzender Knoten in mir löste. Überschwemmt von ausgearteten doch wunderschönen Gefühlen, liefen mir Tränen die Wange hinunter und ich genoss diesen Moment des Siegs. Ein Sieg ohne Verlieren. Ein Sieg in mir.


Auch wenn man den Bericht an dieser Stelle abschließen könnte, möchte ich das Gefühl danach, den Verlauf des Tages, die Folgen des Laufes, nicht unerwähnt lassen. Immerhin fand dieses besondere Ziel, was mir nun dieses Hochgefühl beschwerte, im warmen Wasser der Therme seinen Ursprung.

Ich kam um 9:40 Uhr in der Therme an – also 3:40 Stunden, nachdem ich losgelaufen bin. Sogleich, nachdem ich ankam, ging ich erst einmal ins Innere des Gebäudes und kaufte mir beim Bäcker einen Eistee, den ich in einem Zug leer trank. Und schon einen Moment, nachdem ich gezahlt hatte, sah ich meine Freundin hereinkommen. Das war ein Gefühl, welches mit Worte nicht mehr auszudrücken ist. Alle Vertrautheit, die mir während des Laufs, inmitten der Anstrengung, abhandengekommen ist, kehrte schlagartig in mich ein. Ich begrüßte sie beglückt und erschöpft zugleich und erzählte ihr kurz von dem Lauf, der schon zu diesem Zeitpunkt nichts mehr von seiner Beschwernis innehatte. Mich umspülten Wellen des Glücks. Wir warteten nicht lange und gingen hinein. Nun hatte ich die Gewissheit: das Ziel ist erreicht. Die Entkräftung und Ermüdung in mir steckend, wusste ich doch, einen vielfach verdienten, höchst entspannenden Tag vor mir zu haben. Und schon die ersten Minuten in diesem wohlig warmen Quellwasser wiegten alle Beschwerlichkeit auf und schenkten mir, wonach ich sehnte: absolute Tiefenentspannung, ein sanftes Prickeln in den Beinen und eine tiefe innere Ruhe. Wir gönnten uns zum Vormittag erst einmal einen Kaffee, ein Croissant, ließen aber auch das Mittagessen nicht lange auf uns warten: eine große Portion Spaghetti Scampi mit einem Erdinger Weißbier.

Ohne jetzt auf die vielen Einzelheiten einzugehen, kann ich zusammenfassend sagen, dass es ein traumhaft schöner Tag war! Interessanterweise erholen sich die Muskeln, wohl bedingt durch das warme Wasser, viel schneller als ich es gewohnt bin. Das Bewegen innerhalb der Therme bereitete mir keine besondere Anstrengung und auch die Beine erhielten – zumindest im Wasser – wieder ihre Leichtigkeit.

An diesem Tag fehlte es uns an nichts. Wir lagen nach dem Essen in der Sonne, träumten vor uns hin, nickten kurz ein. Wir erholten uns in der Sauna, tankten neue Energie und vergaßen alles, was nicht zu diesem Ort gehörte. Es war einfach ein perfekter Tag!

Es grüßt Euch,
Siddhartha
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