Die letzte Woche vor dem Lauf schauten Gigi und ich mit wachsender Besorgnis auf die Wettervorhersage, die für Samstag, d. 14.06., heiß-trockene 33 Grad im Ahrtal anzeigte. Der Ahrathon hatte uns in mehrfacher Hinsicht angesprochen. Als „Genusslauf“ sollte er sich durch die schönen Weinhügel des Ahrtals schlängeln und an den Verpflegungsstationen u.a. verschiedene Weine zur Verkostung anbieten. Zudem versprach der wahrscheinlich durch den französischen Médoc-Marathon inspirierte Kostüm-Halbmarathon, der eine der beiden Runden lief, Unterhaltung auf der Strecke. Nur so viel vorweg: Es sollte mental wie körperlich der anstrengendste Marathon meines Lebens werden, obwohl ich – anders als Gigi – erst nach dem Lauf den ersten Schluck Grauburgunder genossen habe.
Vieles lief im Vorfeld besser als im Jahr zuvor: Wir sind beide verletzungsfrei, halbwegs gesund und ohne größere Kollateralschäden durch die Zeit des Trainings gekommen, hatten früh schon ein schönes Hotel gebucht, das fußläufig vom Start- und Zielpunkt entfernt lag, und die Großeltern sprangen lieberweise wieder einmal als Babysitter ein, so dass wir uns Freitagabend auf den Weg ins Rheinland machen konnten. Die angesagte Hitzewelle verleitete uns kurzerhand zwar noch zu ein paar Impulskäufen, wie einem zweiten Trinkrucksack und einer kurzen Hose, aber nach anderthalb Stunden Herumgeeiere am Herkunftsort waren wir dann endlich unterwegs. Die Ankunft in Bad Neuenahr erinnerte mich an frühere Urlaube, in denen man in einer ganz anderen Region, als der, aus der man kam, aus dem Auto oder Flugzeug stieg, und alles ganz warm und intensiv roch. Zwar sind die Spuren der verheerenden Flut von 2021 an vielen Stellen noch deutlich zu sehen, aber insgesamt machte das Örtchen einen freundlichen und optimistischen Eindruck. Vier Wochen zuvor hatte ich, da ich zu dem Zeitpunkt gerade mit meinen Schwestern Bonn besuchte, einen meiner langen Läufe nach Bad Neuenahr gemacht und war begeistert von der abwechslungsreichen Landschaft und dem Wein, der an diesem Wochenende ja auch eine nicht ganz unerhebliche Rolle spielen sollte.
Der Morgen des Laufs war strahlend schön, aber auch schon früh sehr warm. Es war also nicht darauf zu hoffen, zumindest die ersten Stunden bei kühleren Temperaturen laufen zu können. Die Stimmung im Startbereich war trotzdem heiter, hatten sich die meisten doch augenscheinlich nicht für den Marathon, sondern für den Halbmarathon angemeldet. Von den knapp angemeldeten 100 Marathonläufern traten am Ende 59 an – oder kamen durchs Ziel. Als dann um neun Uhr der Startschuss fiel, wurde rasch klar: Hier wird einem kein Kilometer geschenkt. Die Strecke hatte ein Höhenprofil mit ordentlich Höhenmetern, die entmutigenderweise durch ein bald gar nicht mehr fröhliches Auf-und-Ab zustande kamen. Anders als bei dem Fichtelgebirgsmarathon oder auch dem Rennsteiglauf gab es hier keinen Abschnitt, der nicht alles von einem abverlangt hätte. Entweder ging es steil bergauf oder es ging nicht minder steil bergab, was schnell ebenso ermüdend war. Dazu prügelte die Sonne von der ersten Minute an auf uns ein; auf der Strecke gab es kaum Schatten. Wir liefen in der Masse auf den Wirtschaftswegen zwischen den Weinbergen, die aus Asphalt oder hartem Schotter bestehen. So freute ich mich sehr schnell und immer wieder über die Verpflegungsstationen, an denen man sich alle zwei Kilometer einen Schwamm mit kaltem Wasser über dem Kopf auswringen und auch anderweitig laben konnte. An Wein war meinerseits übrigens nicht zu denken! Ich hatte meine liebe Not, meinen Puls immer wieder in annehmbare Frequenzbereiche zu bringen, und konzentrierte mich darauf, langsam zu laufen, viel zu trinken und zu regelmäßig zu essen. Es erwies sich als psychologisch durchaus herausfordernd, dass man bei der ersten Runde bereits die ganze Zeit daran dachte, dass man genau diesen Anstieg zwei (oder mehr) Stunden später wird noch einmal laufen müssen. Was sage ich da – laufen? Gehen! Kraxeln! Kreuchen!
Und genau so sah es aus. Hatte ich nach 21,1 Kilometern das Ziel das erste Mal noch frohen Mutes durchtrabt, stellten sich danach bald Zustände mittlerer Verzweiflung ein. Inzwischen war das Thermometer auf über 33 Grad geklettert; wenn ein Lüftchen wehte, dann war es, als würde jemand eine riesige Ofentür öffnen. Das Wasser schien noch in den Trinkbechern, die einem angereicht wurden, zu verdunsten und mir war langsam etwas flau in der Magengegend. Ab Kilometer 25 versuchte ich bei Steigungen Gehpausen einzulegen, doch die Sonne brütete dermaßen unerbittlich, dass selbst im Gehen mein Puls lange Zeit nicht mehr unter 95% sinken wollte. Das Läuferfeld hatte sich zwischenzeitlich entzerrt, ich sah jetzt vermehrt Wanderer, welche die halbe Strecke liefen. Irgendwann, bei Kilometer 32, erblickte ich zwei Menschen in Warnwesten und dachte noch: Irgendwie beruhigend, dass ein paar Helfer die Strecke mitgehen. Ich quälte mich an den schwankenden Gestalten vorbei, musste aber angesichts des Mörderanstiegs, der nun kam und sich bestimmt zwei, drei Kilometer weit hinzog, wieder ins Gehen zurückfallen. Die zwei orangenen Westen holten mich bald ein und lächelten ein freundliches Zahnspangenlächeln. Wie alt mochten sie sein? Alt genug jedenfalls, um sich am Wein gütlich zu tun, der wahrscheinlich für einen Teil der guten Laune verantwortlich war. Sie machen es auch richtig, dachte ich grimmig, im Gegensatz zu mir, die unnötiger- wie bekloppterweise hier einen Marathon lief. Jedenfalls feuerten die Zwei mich mit ihrem weißweininduzierten Enthusiasmus tüchtig an weiterzulaufen, keinesfalls aufzugeben und überhäuften mich mit kämpferischen Motivationssprüchen.
Als wir um die Kurve bogen, erschienen immer mehr Verkleidete und ich erinnerte mich, dass der Kostümmarathon etwas später gestartet war als wir, so dass wir die lustigen Leute auf unserer zweiten Runde einholen konnten. Und es war wirklich eine nette, allerseits ausgelassene und freundliche Stimmung. An meinem körperlichen und mentalen Tiefpunkt um Kilometer 34 herum hatte sich dann einer kurzerhand, aber mit einem gewissen sportlichen Ehrgeiz, darauf versteift, mich „durchs Ziel zu bringen“. Ein paar Kilometer (oder waren es nur ein paar Schritte gewesen?) wich nicht mehr von meiner Seite. Er polterte an die Versorgungsstationen und holte Wasser, forderte andere Menschen auf mitzulaufen, auch Wanderer und am Geschehen gänzlich Unbeteiligte, die sich davon unbeeindruckt zeigten, und kommentierte auf rührend ermunternde Weise alles, was ich tat (was sich zu diesem Zeitpunkt vor allem aufs Gehen, Atmen und Schweigen belief, um Energie zu sparen): „Ja genau, gehen, kleine Schritte, das ist richtig, nur an die Schritte denken, nicht ans Ziel, eigentlich sind alle Höhenmeter geschafft, oh nee, doch nicht, sorry, aber egal, das schaffst Du, für mich ist das auch hart, mein erster Halbmarathon und dann auch noch mit Wein, los nochmal laufen, nein? ok, gehen ist auch toll, gehen ist super, ich laufe so lange mit, wie ich kann…“ Irgendwann war er verschwunden und ich bei Kilometer 37 angelangt. Ich sah Menschen in aufwändigen Verkleidungen, überdimensionierte laufende Haribo-Tüten, Märchengestalten in unterschiedlichsten Formen und Farben, jede Menge TuTus, trabende Schwimmringe, einen schwebenden Dionysos und andere, dem Wein zugetane Gottheiten sowie römische Legionäre, die Schlager hörten. Wie in einem Fiebertraum kämpfte ich mich weiter voran. Ein Wanderer steckte mir ein Dextro zu und ich schlurfte weiter durch die erbarmungslose, sengende Hitze. Selbst als ich bei Kilometer 41 schon das Ziel sah, war ich nicht mehr imstande zu laufen, schleppte mich den letzten Kilometer hin, um die allerletzten hundert Meter noch einmal in Gang zu kommen. Das Ziel erreichte ich mit Bewegungen, die nur noch entwerft an Laufen erinnern, nach unglaublich zehrenden 05:13 Std. und machte damit immer noch den fünften Platz unter den Frauen. ;)
Gigi war, wie fast immer, etwa eine halbe Stunde vorher ins Ziel gekommen. In Ermangelung an schattigen Plätzen hatte er sich zwischenzeitlich in einem Graben gelegt, aus dem er sich aber rechtzeitig wieder herauswühlte, um mich im Zielbereich in Empfang zu nehmen. Bestimmt noch einmal eine halbe Stunde musste darauf verwendet werden, zu stöhnen, wie anstrengend das alles war. Gigi hatte auf der Strecke sogar mit dem Gedanken gespielt, ganz abzubrechen, hatte sich dann aber an einer Versorgungsstation etwas länger ausgeruht, der Musik gelauscht, tatsächlich von dem Wein gekostet und konnte sich schließlich noch einmal aufraffen. Irgendwann waren wir dann auch in der Lage, den Wein, den Quiche und andere Leckereien zu genießen, die den Läufern im Zielbereich dargeboten wurden. Die Gewinner der einzelnen Disziplinen durften sich auf eine Holzwaage setzen und wurden in Wein aufgewogen. Wir konnten auf dem Gelände noch ein wenig zu Kräften kommen, bevor ein kleines Festival (Rock und Wein) startete.
Zurück im Hotel frönten wir unserem liebgewonnenen Ritual (Futtern, Trinken, Glotzen) und setzten uns später, da es so ein herrlich lauer Abend war, noch einmal mit einer Pizza an die Ahr, von der man in diesen Tagen kaum glauben konnte, dass sie einmal zu einem reißenden Fluss angeschwollen ist. Ich hoffe, dass der Ahrathon der Region ein paar gute Euro in die Kassen gespült hat. Wiederkommen möchte man jedenfalls sofort.
Der Ahrathon ist ein sorgfältig und liebevoll organisierter Lauf mit vielen unterschiedlichen Möglichkeiten des Mitmachens. Vielleicht werden Gigi und ich dort nicht noch einmal die Marathonstrecke laufen, aber der Halbmarathon reizt uns durchaus. Für Gigi und mich war es trotz der körperlichen Herausforderungen ein schönes Lauf-Wochenende, das schon wieder Lust darauf macht zu überlegen, wo es im nächsten Jahr hingehen könnte.
Alles Liebe und sportliche Grüße von
Momo
Re: Ein Marathon im Ahrtal – oder der „Ahrathon des Sables“ (14.06.2025)
2Danke für den anschaulichen Bericht!
Du hast es so schön geschildert, dass ich überlege, dort auch einmal zu starten, obwohl ich überhaupt keine Marathons laufe!

Du hast es so schön geschildert, dass ich überlege, dort auch einmal zu starten, obwohl ich überhaupt keine Marathons laufe!

Re: Ein Marathon im Ahrtal – oder der „Ahrathon des Sables“ (14.06.2025)
3Lieben Dank! Es ist auf jeden Fall ein Erlebnis und der Wein danach lässt einen den Schmerz erstaunlich schnell vergessen. 

Re: Ein Marathon im Ahrtal – oder der „Ahrathon des Sables“ (14.06.2025)
4Danke für den Bericht! Hitzeläufe sind echt das Letzte aber ansonsten klingt's nach einer sehr sympathischen Veranstaltung!