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von einfach-Marcus
So, nun gönne ich euch ma kurz einen Enblich in meinen ersten Abend als "Patriot"...
Ich habe ihn mit einem Arbeitskollegen und seiner Clique(alles StudentINNen) zunächst im Biergarten verbracht. Die Stimmung war locker-lustig, ca. 80% aller anwesenden waren irgendwie dekroriert, und auch ich musste erstmal so ne stark weiblich parfümierte Federboa oder sowas um mich hängen. Wir hatten kleine Fahnen, Deutschland-Hände, ne Tröte und bunt bemalte, ausgelassene junge Leute. Je näher der Anpfiff rückte, desto ruhiger wurde es aber. Insgesamt hatte ich den Eindruck dass da nicht das fußballverrückte Publikum saß, eher ein Querschnitt dieser Republik, der Frauenanteil lag wohl bei ca. 40%. Es wurde gefiebert, gezittert, geschrien, gestöhnt, geärgert, alles das was zum Fußball dazu gehört. Sprüche a la "Die Polen hauen wir weg" habe ich nicht gehört, hätten mich aber auch nicht gestört, denn NIEMAND würde ernsthaft damit das Land meinen, sondern genau diesen Abend und dieses Spiel. Sollte es die Konstellation erfordern, würden genau diese Leute beim nächsten Mal den Polen die Daumen drücken, damit D weiter kommt. In der halbzeit ließ ich mich dann von einer Studentin unterhalten, die ohne irgendeine Ahnung von Fußball zu haben (und das auch zugab) meinte, links müssten wir stärker werden und genauer spielen und eine sachlich präzise Analyse lieferte - für ihre Verhältnisse. Ich meinte zu ihr: ich würde Friedrich rausnehmen, Borwoski rein, Schneider auf rechts stellen. Sie meinte nur, wenn ich das sage, würde da schon was dran sein :-) Zwischendrin hatte ich mal den Polenfan gegeben, und laut "Polska, Polska" gerufen, bekam aber weder böse Blicke noch Kloppe angedroht, auch mein lauter Ruf nach "Olli Kahn" fand mehr Zustimmung als erwartet...
Die zweite Hälfte war dann ein langes Leiden, die Freude nach der Hinausstellung verbunden mit der Hoffnung, es würde sich noch was tun... In der 88. Minute dann war ich umzingelt von Massen im Torjubel; ich wunderte mich, hatte nur zwei Lattentreffer gesehen, war danach aber der einzige der noch saß, alle anderen, zumindest um mich herum waren aufgesprungen und jubelten nun, bis sich langsam aber sicher die Erkenntns durchsetzte, war wohl nix. Dann fiel dann doch noch das Tor, und dann "genoß" ich zum ersten Mal echtenTorjubel in einer Menschenmenge. Imponierend. Eine mir gänzlich unbekannte Frau rubbelte mich von hinten ab vor lauter Freude, und man war reichlich aus dem Häuschen.
Schlußpfiff. Was sonst bei mir den Übergang zu anderen Tätigkeiten bedeutet, bedeutet für Seltengucker: Autocorso! Moooment, sage ich, wir haben ein Vorrundenspiel gewonnen, und ihr wollt..? Ja, wollten Sie, und alleine da bleiben wäre ja auch öde gewesen und so konnte ich meine Studien weiterführen. Also ab in einen kleinen $automarke, ich bekomme eine Fahne in die Hand, Fenster runter, und ab in die Innenstadt einer Uni- und FH-Stadt. Was soll ich sagen, nach 5 Minuten dieser Stimmung konnte man da nicht mehr ohne mitzumachen überleben. Ich habe nur einmal noch kurz erwähnt, dass es ja nur ein Vorrundenspiel gewesen sei, aber das interessierte niemanden. Die Stimmung war bombastisch, ausgelassen. Die Leute sangen vom Finale, wir dichteten im Auto derweil die schwäbische Variante "Ohne Jürgen, hätt'mas nie geschafft", nackte Oberkörper mit einer 10 hinten drauf, alles superlaunig. Dann, erfreulich erstaunlich: ein Sanka mit Blaulicht schießt von hinten heran, und schlagartig kehrt sowas wie Souveränität ein, Freudengesänge verstummen und schlagen in Anweisungen um: rechts ran, rechts ran, machts Platz...ich muss zugeben, das hat mich wirklich beeindruckt, obwohl vieler derer die da sangen mehr über den Dust getrunken hatten als ich jemals auch nur empfunden habe, lief das in dieser kritischen Situation blendend ab. Auch die Polizei hatte sich hervorragend verhalten, ließ eigentlich verbotene Sachen wie "ausm Auto raushängen", Hupkonzerte, auf der Straße liegen etc. zu, und die Bereiche um die Kliniken herum waren abgesperrt. 1a!
Anschließend sind wir noch zu Fuß in die Stadt, und auch da hat sich mein Eindruck bestätigt. hier geht eine riesengroße Sause ab, weil DEUTSCHLAND gewonnen hat, aber nationalistisches vernahm ich nicht. Würzburg hat ja die Mannschaft Ghanas zu Gast, wir sind drei mal an deren Hotel vorbei, da wurde zusammen gefeiert, ich bin auch auf einem Bild festgehalten worden, habe dabei einen mir gänzlich unbekannten Afrikaner im Arm, der sich mit uns freute, es waren auch Gesänge für Togo zu hören; was mir auch auffiel: viele junge Leute, denen man von der Optik her "Migrationshintergrund" unterstellen würde feierten mit. Ich habe da nichts von Ausgrenzung gespürt, die waren nicht unter sich sondern mittendrin. Auch der eine oder andere Fan eines anderen Landes war dabei, zumindest wenn Trikot und Deko ernst zu nehmen waren, und ich hatte nie das Gefühl dass das zu Problemen führt.
Vielleicht schleicht sich langam aber sicher so ein Gefühl ein, dass wir genauso mit der deutschen Fahne Party machen können, wie andere Länder auch. 60 Jahre nach Ende des dritten Reichs sollte die Deutungshoheit über das Nationalsymbol Fahne wieder den Vorwärtsgewandten übertragen werden. In Zeiten in denen der gemeine junge Deutsche Döner, Pizza und Sushi statt Schweinshaxe und Sauerbraten vertilgt, sollte man mit diesem Thema relaxter umgehen...
Ich auf jeden Fall hatte wider Erwarten einen Heidenspaß...und bin immer noch nicht stolz Deutscher zu sein, danke aber Oliver Neuville, und im Achtelfinale "hauen wir die Engländer weg"...und danach trinken wir mit denen...
Wie viele Dinge gibt es doch, die ich nicht brauche!
Diogenes von Sinope