oder Nr.4 lebt
Normalerweise laufe ich bei Wettkämpfen gegen mich selbst. Die Mitstreiter sind dabei lediglich ein Gradmesser, wie gut mir das gelingt. Normalerweise würde ich nach zwei erkältungsbedingten Trainingspausen und beim derzeit miesen Wetter ins Winterlager gehen und mich auf die nächsten Wettkämpfe im April freuen. Aber ein diabolisches Schicksal hatte mir beim Bonncup, einer Laufserie über sechs Läufe, vor dem letzten Wettkampf völlig überraschend den dritten Platz meiner Altersklasse beschert und mich damit geradezu genötigt, samstags in aller Herrgottsfrühe frierend im Novemberregen zu stehen, und um mich herum eine wettergegerbte Schar gleichermaßen Verrückter, die den Reservisten Halbmarathon im Bonner Kottenforst bestreiten wollten. Mein Plan war klar: um meine Platzierung zu halten, musste ich den Viertplatzierten im direkten Vergleich besiegen, und sei es nur um einen Zentimeter, da er ansonsten aufgrund eines Streichergebnisses meinerseits an mir vorüberziehen würde.
Es war mir in diesem Moment egal, dass ich nur deshalb in diese Situation gekommen war, weil einige schnellere Läufer zu wenige Läufe bestritten hatten, um in die Wertung zu kommen. Es war mir auch egal, dass ich einen Preis gewinnen konnte. Was zählte, war die sportliche Herausforderung. Aber wer war der Rivale? Vor einem Monat waren wir zwei Plätze voneinander entfernt im vorletzten Lauf der Serie, aber das half mir nicht viel. Der Zweitplatzierte unserer Altersklasse, mit dem ich mich die Saison über gerauft hatte, wollte mir behilflich sein und zeigte kurz vor dem Start auf einen drahtig wirkenden, zu jung aussehenden Mitstreiter.
Startschuss! Heute wollte ich nur auf Platz laufen, logisch, aber Nr. 4 zischte derartig schnell los, dass ich sofort an die 50 Meter verlor. Nr.2 wollte mir Schrittmacherdienste leisten, aber ich ließ ihn sofort ziehen, da mir das Tempo einfach zu schnell war. Immerhin hatte ich die Hoffnung, dass ich langfristig Boden gutmachen könnte. Nach etwa zwei Kilometer kamen wir aus dem Wald auf eine lange, lange Gerade, auf der uns der Gegenwind kräftig ins Gesicht pustete. Ich lief allein, was sollte ich nun tun? Da der Abstand zu Nr. 4 sich drohend vergrößerte, lief ich zu einem Duo auf, um im Windschatten Kräfte zu sparen. Bald kamen zwei weitere Läufer heran, wir schlossen zu zwei anderen Läufern auf, und nach knapp fünf Kilometern ergab sich das seltsame Bild, dass ein Klumpen von zehn, zwölf Läufern zusammenlief. In diesem Moment hatte ich auch Nr. 4 erreicht, aber gleichzeitig meine Kräfte überstrapaziert. Ich musste sofort wieder abreißen lassen, so deprimierend das auch war. In diesem Moment war ich überzeugt, dass ich scheitern würde.
Bald betrug der Abstand zu Nr. 4 wieder etwa 50 Meter, und von hinten näherte sich ein Läufer, der kurz vorher aus der Gruppe zurückgefallen war, aber seinen Rhythmus gefunden zu haben schien. Er war mir schon bei anderen Läufen aufgefallen: großgewachsen, Läuferstatur und Vollbart. Bevor ich vollends zurückfiel, heftete ich mich für die nächsten Kilometer an seine Fersen. So langsam erholte ich mich von meinem zu hohen Tempo, und es fiel mir zusehends leichter, am Bartmann zu kleben wie eine Klette. Der Herbstwind hatte die Gruppe vor uns auseinandergewirbelt, und vereinzelt taumelten uns Läufer daraus entgegen wie Herbstlaub. Nr. 4 zog unbeirrt etwa 50-100 Meter vor uns seine Bahn, aber mit meinen Kräften wuchs auch wieder meine Zuversicht.
Die Getränkestation bei Kilometer zehn passierte ich in 42’25. Normalerweise lasse ich nie eine aus, aber heute wollte ich keine Zeit verlieren, und so passierte ich den Bartmann, dankbar für seine bisherigen Schrittmacherdienste. Kurz darauf erreichten wir eine Spitzkehre, um danach wieder eine endlos lang erscheinende Gerade abzuarbeiten. Jetzt, mit Rückenwind, galt es! Ich fühlte mich wieder kräftig und stark, und ich verringerte tatsächlich den Abstand zu meinem Rivalen, so dass ich ihn bei Kilometer 14 einholte. War die Festung Nr. 4 sturmreif? Eigentlich ja, sagte mir meine Lauferfahrung. Wen man zu solch einem Zeitpunkt einholt, der kommt nicht mehr zurück. Nein, sagte mir meine Beobachtung, denn mein Gegner lief flüssig und rhythmisch, sah gar nicht ermüdet aus. Komischerweise hatte sich unser Tempo angeglichen, als zöge er Kraft aus meiner Nähe. Oder ließ ich nun langsam nach?
Als uns ein Läufer kurze Zeit später langsam passierte, sah ich meine Chance gekommen. Ich heftete mich an ihn, um Nr. 4 abzuschütteln. Aber es war ein halbherziger Versuch. Der Vordermann war zu schnell, und von hinten holte mein Rivale wieder auf. Meine Unentschlossenheit machte mir zu schaffen. Hing er nur noch mit letzter Kraft an mir? Sobald ich etwas schneller werden konnte, gewann ich etwas an Boden. Oder gab ich nur den Schrittmacher? Denn er holte immer wieder auf. So langsam merkte ich, dass meine Kräfte erlahmten. Verdammt, diese unebenen Waldwege neuerdings! Ich haderte mit mir, sollte ich mich hinter meinen Gegner zurückfallen lassen, um auf dem letzten Kilometer alles zu versuchen? Vielleicht war er aber fertiger als ich, dann musste ich so weiterlaufen. Wir passierten Kilometer 18, und ich schwankte zwischen Hoffnung und Zweifel.
Die Entscheidung fiel, wie schon bei einigen meiner anderen Halbmarathons, bei Kilometer 19. Ich hatte auf dem unebenen Waldboden zunehmend Mühe, Frequenz und Laufhaltung beizubehalten. Die Beine wurden schwer. Meine beschlagene Brille hielt ich schon lange in der Hand, und so interpretierte ich kurzsichtig ein Hinweisschild falsch und wollte in einen falschen Weg abbiegen. Nr. 4 war so fair, mir einen Hinweis zuzurufen, aber dieser selbstverschuldete Bruch war endgültig zu viel. Die Beine streikten, und binnen kurzem zog Nr. 4 unaufhaltsam davon. Jetzt begann der eigentliche Passionsweg für mich. Die unmittelbare Auseinandersetzung verlieren zu können, damit hatte ich mich während des Laufes genug beschäftigt. Aber ich hatte mir einen Kampf bis aufs Messer vorgestellt. Tatsächlich verlor ich ohne Gegenwehr. Wie zum Hohn überholten mich der Bartmann und zwei weitere Läufer, die ich längst abgeschüttelt glaubte. Und ganz zum Schluss, als ich vor dem Ziel noch einmal mit dem allerletzten Fitzelchen Energie, das mir verblieben war, beschleunigte, um wenigstens den nächsten Läufer hinter mir in Schach zu halten, spurtete er lässig 50 Meter vor dem Ziel an mir vorbei. Restlos ausgelaugt und innerlich leer erreichte ich nach gut 1h34 das Ziel des Laufes; mein eigentliches Ziel hatte ich jedoch gründlich verfehlt.
Nr. 2 wartete freundlicherweise auf mich, um mich wieder aufzubauen. Er hatte bei Kilometer 15 gesehen, dass ich knapp hinter ihm war, und mit mir gehofft, dass ich es schaffen würde. Ich gratulierte ihm zu seinem Erfolg und trat die Heimreise an, innere Kämpfe mit mir austragend. War meine Renntaktik falsch gewesen? Nr. 4 war heute einfach stärker gewesen als ich, das erkannte ich neidlos an, aber dieser Einbruch zum Schluss deprimierte mich. Platz drei oder vier war mir letztendlich egal, doch die sportliche Herausforderung hatte ich nicht gemeistert. Naja, jetzt kann ich in die Winterpause gehen, und nächstes Jahr erneut angreifen, dann in einer neuen Altersklasse, war dann auch mein Resümee.
Die Sache hatte noch ein komödienartiges Nachspiel, als ich die Ergebnisliste sah. Nr. 4 war gar nicht Nr.4, soweit die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht war, dass Nr.4 derjenige Läufer war, der mich ganz zum Schluss überholt hatte.
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Hallo Knips,
Wow, so ein spannender, mitreissender Laufbericht als Ueberraschung an diesem verregneten Montagnachmittag. Ich wurde grad für ein paar Minuten aus dem Büroalltag gerissen und bin mit dir mitgelaufen und habe mitgelitten.
Hart gekämpft, und dann soooo viele Widrigkeiten und am Schluss kein Happy End - das ist ja spannender als ein James Bond-Film.
Ich gratuliere trotz der Enttäuschung ganz herzlich zu der trotzdem sehr ansehlichen Zeit, und fürs tapfere Kämpfen, und bedanke mich für den anschaulichen und super realistisch beschriebenen Bericht.
Liebe Grüsse, Marianne
Wow, so ein spannender, mitreissender Laufbericht als Ueberraschung an diesem verregneten Montagnachmittag. Ich wurde grad für ein paar Minuten aus dem Büroalltag gerissen und bin mit dir mitgelaufen und habe mitgelitten.
Hart gekämpft, und dann soooo viele Widrigkeiten und am Schluss kein Happy End - das ist ja spannender als ein James Bond-Film.
Ich gratuliere trotz der Enttäuschung ganz herzlich zu der trotzdem sehr ansehlichen Zeit, und fürs tapfere Kämpfen, und bedanke mich für den anschaulichen und super realistisch beschriebenen Bericht.
Liebe Grüsse, Marianne
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@ Knips:
Was für ein toller Bericht!
Es ist halt wie mit den (guten) Filmen - glatte Happy Endings sind auf Dauer langweilig, und aus so einem spannenden, dramatischen Finish kann man mehr lernen als aus einem fehlerfreien Lauf.
Allerdings - 10er Durchgangszeit von 42'24 bei Endzeit 1:34 - eventuell doch etwas zu schnell angegangen?
Was für ein toller Bericht!

Es ist halt wie mit den (guten) Filmen - glatte Happy Endings sind auf Dauer langweilig, und aus so einem spannenden, dramatischen Finish kann man mehr lernen als aus einem fehlerfreien Lauf.
Allerdings - 10er Durchgangszeit von 42'24 bei Endzeit 1:34 - eventuell doch etwas zu schnell angegangen?
"Im Rhythmus bleiben"
4
Herrlicher Bericht!
Glückwunsch! 


Sag nicht alles, was du weißt, aber wisse immer, was du sagst (Matthias Claudius)
http://artificial-nonsense.blogspot.com/
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schön, dass es euch gefallen hat
5Wenn das nicht der Beweis für die Möglichkeit des virtuellen Laufens ist, dann weiß ich auch nicht weiter. Danke!SchweizerTrinchen hat geschrieben: Ich wurde grad für ein paar Minuten aus dem Büroalltag gerissen und bin mit dir mitgelaufen und habe mitgelitten.
Du hast recht, Fritz. Als mein Sohn mich trösten wollte, sagte ich ihm, dass sich aus dem Lauf immerhin eine spannende Geschichte ergeben hat, die ich ihm noch jahrelang vorjammern werde.Fritz hat geschrieben: Es ist halt wie mit den (guten) Filmen - glatte Happy Endings sind auf Dauer langweilig, und aus so einem spannenden, dramatischen Finish kann man mehr lernen als aus einem fehlerfreien Lauf.
Allerdings - 10er Durchgangszeit von 42'24 bei Endzeit 1:34 - eventuell doch etwas zu schnell angegangen?
Die Durchgangszeit - mein Schreibfehler - war 43'25, immer noch recht flott. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass ich nicht übersäuert war, sondern mir zum Schluss einfach die Kräfte fehlten. Seis drum, beim nächsten Mal wird alles anders.
langsam läuft am längsten
6
War das spannend 
... aber am besten an der Story finde ich, dass sie ein Vorurteil meinerseits ein bisschen ins Wanken gebracht hat.
Ziemlich am Anfang des 'Zweikampfes' kam mir der spontane Gedanke: "Is ja eh klar, wie das ausgeht. Mit einem Sieg natürlich - welcher Mann schreibt schon sonen langen Bericht, wenn er NICHT gewonnen hat ... "
... und dann mußte ich mich von Satz zu immer spannender werdendem Satz und Abschnitt fragen:
oder doch nicht ...
oder etwa doch ganz anders ...
das wird doch nicht wirklich ...
Toller Bericht. Echtjetzt.

... aber am besten an der Story finde ich, dass sie ein Vorurteil meinerseits ein bisschen ins Wanken gebracht hat.
Ziemlich am Anfang des 'Zweikampfes' kam mir der spontane Gedanke: "Is ja eh klar, wie das ausgeht. Mit einem Sieg natürlich - welcher Mann schreibt schon sonen langen Bericht, wenn er NICHT gewonnen hat ... "
... und dann mußte ich mich von Satz zu immer spannender werdendem Satz und Abschnitt fragen:
oder doch nicht ...
oder etwa doch ganz anders ...
das wird doch nicht wirklich ...
Toller Bericht. Echtjetzt.
7
Dramaturgisch war der Lauf optimal.Knips hat geschrieben:Als mein Sohn mich trösten wollte, sagte ich ihm, dass sich aus dem Lauf immerhin eine spannende Geschichte ergeben hat, die ich ihm noch jahrelang vorjammern werde.

"If I had no sense of humor, I would long ago have committed suicide." (Gandhi)
8
Der erste Absatz ist leider nicht zum weiteren Lesen geiegnet.
Macht ja nic.
Hab mich nur gefragt warum du so wenige positive Replys bekommen hast..
Verdient hättets du sie allemal..
LG
Deckard
Macht ja nic.
Hab mich nur gefragt warum du so wenige positive Replys bekommen hast..
Verdient hättets du sie allemal..
LG
Deckard