Nahezu zwei Jahre laufe ich regelmäßig. Das letzte Jahr, anno 2006, stand ich am Wegesrand beim Hamburger Marathon und habe mir geschworen: den läufst Du nächstes Jahr mit. Nach der ersten Euphorie korrigierte ich mein Ziel: erst einmal den HM wuppen. Sicher, auch M wäre vielleicht möglich, aber nimm Dir Zeit – hab’ Geduld.
Prolog
Von Januar bis März befolgte ich mehr oder weniger folgsam meinen Trainingsplan. Das Ziel: HM sub 2 h. Die Tempoeinheiten lagen bei 5 : 43 min / km und dauerten längsten 4000 Meter. Zügig hieß 6: 10, locker 6:30 und langsam 7 Minuten pro Kilometer. Alles machbar, auch wenn mir die Tempoeinheiten zu schaffen machten, und ich mir danach nicht vorstellen konnte, in dieser Geschwindigkeit 21 Kilometer lang unterwegs zu sein.
Akt 1
Carbolaoding am Vortag klappte sehr gut: unentwegt gefuttert, zum Frühstück Rührei, Porridge, Kefir, auf der Autofahrt von Hamburg gen Berlin diverse Frikadellenbrötchen, Bananen und Zwieback mit Schokoguss.
Nach 3,5 Stunden Fahrt warteten bei meinen Gastgebern bereits die dampfenden Schüsseln auf dem Tisch: asiatisches Hühnchen / Reisgericht mit viel Gemüse und zum Nachtisch selbst gemachte Schwarzwälder Kirschtorte. Beim Foritreffen dann eine leichte, aber exquisit gewürzte Möhrensuppe. Und als Mitternachtsmahl noch mal Spaghetti mit Pesto.
Alles gemischt mit reichlich Erdinger alkohlfrei und Wasser und 1/3 l Vollbier der Marke Was trinken wir: Schultheiss Bier!
Akt 2
Nicht gut, aber schon gar nicht schlecht geschlafen stehe ich gegen 6:30 Uhr auf: wohlgemut und gut genährt. In Ruhe Morgentoilette erledigt und den ersten Kaffee geschlürft. Isses schön. Klar Lampenfieber ist da, aber diese Spannung ist eher ein Wohlgefühl und Freude auf das, was da kommt.
Langsam wird es Zeit zum Ankleiden: ein Blick aus dem Fenster: kurz kurz. Miste, die falschen Socken eingepackt. Statt Falke RU 4 die Billoteile von Tchibo. Was biste schusselig, na die perfekte Vorbereitung ist eben nur zu 99% gelungen – macht nichts.
Hose und Trikot passen - jetzt die Schuhe, Uhr sitzt, Brustgurt. Die Schuhe, ja mmh, wo ist denn der Rucksack, ich hatte doch .... Und binnen Sekundenbruchteilen ist alles hinüber.
Ein Alptraum: Du fährst im Unterhemd U-Bahn und merkst es erst, wenn alles zu spät ist. Man kann es gar nicht glauben, fasst es nicht, darf nicht wahr sein: was ist ein Angler ohne Angel, ein Spieler ohne Glück, ein Läufer ohne Schuhe?
Akt 3
Alle Möglichkeiten werden durchgespielt: Barfuß laufen? Die Straßenschuhe nehmen? Haben Geschäfte in Berlin am heiligen Sonntag auf? Eigentlich ist alles hinüber! Aber das Foritreffen im Starbucks bringt die unerhoffte Wendung: Haarmänneken hupft rüber in sein Hotel, holt seine Trainingsschuhe, ich lege meine Einlagen aus den Straßentretern rein – und es kann los gehen.
Aus absoluter Verzweifelung wächst neuer Mut: es könnte klappen. Alles drückt und wackelt, aber unbeschuht stehe ich nicht am Start.
Akt 4
21 herrliche Kilometer gelaufen. Auf den ersten Kilometern dachte ich: das wird nie was, Du bist viel zu langsam unterwegs, aber nach sub 1 h auf 10 km glaubte ich zum ersten Mal: das könnte werden. Und erstaunlich: Kilometer 1-16 waren leicht und angenehm. Ich hatte nie das Gefühl, kämpfen zu müssen.
Ab 17 dann wirklich auf die Zähne gebissen. Irgendwann rief ich in die Menge „Wie lang iss noch?!“ – „1,7“ kam mir entgegen, jetzt nicht locker lassen, weiter nur weiter.
Tolle Unterstützung am Straßenrand, meine Leute haben mich in Charlottenburg gefeiert. Wie ein Dogenflash durchzuckten mich Erinnerungen und Gefühle. Unbeschreiblich.
Akt 5
Mit 1:59:07 eine Punktlandung hingekriegt. Nach der ersten Leere von einem Heulkrampf durchschüttelt kam ich zu meinen Leuten und habe mich nach einiger Zeit wieder beruhigt.
Alster und Bier sorgen für gute Nachversorgung, lustige Gespräche und neue Bekanntschaften rundeten den Tag ab. Den Tag? Kam mir vor wie ein halbes Leben.
PS.: 'tschuldigung für die Rempler auf der Strecke. Aber ich wurde so oft ausgebremst, da ging das Adrenalin manchmal mit mir durch. Aber nur ganz wenig manchmal.
PPS.: ein paar Bilder gibt es hier zu sehen
PPPS.: Danke für die viele viele Unterstützung. ich wüsste nicht, wo anfangen, aber von Binchen über Haarmänneken bis Katrynchen und viel mehr - ihr wart alle super

