Aber ich habe mir für heute ein Art Mantra zurechtgelegt und sage mir vor: Ich nehme, was kommt!

Ich habe gut geschlafen, mein letzter 5k-Run vom Samstag Vormittag war auch ok. Außerdem waren wir am Samstag mit den Laufen-Aktuell-Foris Jörg, Kai und Bernie inklusive unserer Frauen zuerst bei der Kaiserschmarrn-Party im wunderschönenen Rathaussaal und am Abend noch beim Carboloading in der Pizzeria "Cavaliere" und hatten enorm viel Spaß.
Einziger Fehler heute morgen war ein verhautes Meeting mit Jörg, Kai und Bernie. Die von mir vorgeschlagene Shell-Tankstelle in der Nähe des Starts entpuppt sich als Esso-Tanke. Ich habe trotzdem dort gewartet und hätte schwören können, dass da gar keine Shell in der Nähe ist. Irrtum!


Die Startsirene geht los und ich trabe vorwärts und sage mir noch ein paar mal vor "Ich nehme, was kommt, ich nehme was kommt ..."
Über die Reichsbrücke bewegen sich zig-Tausende Läuferbeine: Marathon, Halbmarathon und Staffel sind gleichzeitig gestartet. Es ist, wie üblich, ein bisschen eng und ich nehme die ebenfalls üblichen Dolme, die sich zu weit vorne eingereiht haben und viel zu langsam laufen, mit Gelassenheit hin. Ich kann ihnen sogar etwas positives abgewinnen. Sie sorgen nämlich eher dafür, dass ich nicht zu schnell losrenne.
Die Schrecksekunde vom Tag beschert mir bei Km 4 ein Läufer, der plötzlich im rechten Winkel vor mir ausschert und in den ich ungebremst hineinrenne. Ich schreie ihm noch ein wenig freundliches "Vollidiot" nach, aber der Kerl hat sich schon verpisst - im wahrsten Sinne des Wortes; denn er verschwindet hektisch hinter einem Gebüsch

Beim Praterstern geht es ab in den grünen Prater und ich versuche den Lauf zu genießen. Zwischenzeitlich werden wir (wie später auch an der Ringstraße) mit klassischer Musik beschallt. Antonio Vivaldis "Vier Jahreszeiten" erklingen. Ich kenne das fröhliche Werk sehr genau, denn ich habe es in meiner Zeit als Orchester-Geiger auch gespielt.
Bei km 10 geht es zurück in die Innenstadt und dann auf die berüchtigte Wienzeile. Dort gibt es keinen Schatten und die Sonne brennt richtig herunter. Außerdem geht es stetig bergauf. Nicht stark, aber lästig. Ein paar Sekunden lässt hier fast jeder liegen.
Gudrun, die mich wieder coacht, ist an den beiden vereinbarten Punkten nirgends zu sehen. Es ist viel mehr Publikum da wie im Vorjahr und daher äußerst schwierig, jemanden im Gewühl zu finden. Aber ich bin mit Marshmallows und Gel versorgt, es gibt alle 2,5 km Wasser und alle 5 k (ab dem 15er) auch Iso-Getränke und Bananen.
Zurück am Heldenplatz beneide ich für zirka eine Zehntelsekunde die HalbmarathonläuferInnen, die schon im Ziel angelangt sind. Ich weiß aber, dass ich - würde ich den HM laufen - die Marathon-Läufer die nächsten paar Tage noch beneiden würde. Also bereitet mir das kein echtes Problem. Ich habe 1:45:00 gebraucht bis hier her, bin also sehr zufrieden und weiß gleichzeitig, dass ich dieses Tempo heute sicher nicht durchhalte. Es ist mir aber schlichtweg egal. Ich habe ja mein Mantra. Mein "Es" taucht heute überdies auch nicht auf - liegt wohl faul irgendwo in der prallen Sonne und holt sich hoffentlich einen ordentlichen Sonnenbrand

Ich nähere mich Km 26. Dort entdecke ich unsere treuen Trauzeugen Irene und Carlo, die mich anfeuern und Fotos machen und endlich auch meine Gudrun. Heute bleibe ich kurz stehen, nehme ein Gel und ein weiteres Marshmallow in Empfang, kriege noch ein erlaubtes Doping, nämlich einen Kuss und dann trabe ich weiter, am Donaukanal entlang wieder in den Prater hinein. Dass Gudrun heute den HM nicht selbst läuft, liegt an ihrem Arbeitspensum in der letzten Zeit. Mir tut es leid für sie, aber dafür freue ich mich, dass sie da ist und mich unterstützt

Ich nehme jetzt deutlich Tempo raus um mir auf den letzten Kilometern den Hammermann zu ersparen, laufe aber kontinuierlich durch. Im südlichen Teil der Hauptallee gibt es ordentlich Dampf mit "Radio Wien". Mick Jagger und David Bowie geben "Dancing in the streets" zum Besten. Auch "I'm walking on sunshine" von Katrina and the Waves und ein paar andere flotte Songs haben gut gepasst.
Allerdings wird meine Konzentration seit einiger Zeit empfindlich gestört, denn ich laufe mit stetig steigendem Druck auf der Leitung; sprich: Ich muss mal für kleine Jungs, will aber nicht einfach den Prater bewässern, sondern, gut erzogen wie ich eben bin, eine Toilette aufsuchen. Lokus 1 bei km 31 ist besetzt



Kurz zuvor habe ich übrigens auf der Gegenverkehrsstrecke auf der Prater Hauptallee Jörg entdeckt, der knapp 2 Kilometer hinter mir ist und noch fit und munter aussieht.
Das Kilometerschild 37 habe ich passiert und ich befürchte plötzlich, dass "Es" hat mich wieder heimgesucht. Ich habe für eine Minute nämlich einfach keine Lust mehr, weiterzurennen. Ich gehe daher ein Stück, zieh mir ein Gel rein und schwemme an der nächsten Versorgungsstation mit Mineralwasser nach.
Der Himmel hat sich etwas mit Wolken bezogen und es ist gar nicht mehr sooo warm. Beim 38er-Schild denke ich mir daher: "Hey, dass sind ja nur noch 4 Kilometer. Für so schlappe Entfernungen ziehst du dir sonst nicht mal die Laufschuhe an. Also gib Gas!"

Bei Km 40, direkt bei der Einmündung in die Ringstraße, stehen noch einmal Gudrun, Irene und Carlo. Ich freu mich einfach darüber und weiß jetzt, dass ich gut ins Ziel kommen werde. Meine PB von 3:30:37 schaffe ich zwar bestimmt nicht, aber dafür nehme ich eben, was kommt. Zuerst quatsche ich noch kurz mit einem Marathon-Rookie, dem ich zu seinem tollen Lauf-Einstand gratuliere. Die letzten Meter werden so einfach leichter und wir ziehen das Tempo noch einmal ordentlich an. Mit 3:41:33 netto brettere ich über die Zielmatte und freu mich über mein gelungenes "Comeback"

Ich verschwinde in Richtung Dusche und genieße das warme Wasser, ziehe mich in aller Ruhe an und wandere zum Rathauspark, wo ich auf Gudrun und unsere (Lauf)-Freunde warte.
Jörg hat sein Ziel (unter 4.00 Stunden zu bleiben) mit 3:52:xx übrigens locker erreicht


Für mich selbst war der Wien Marathon heute zwar ein Lauf ins Ungewisse, aber dafür bin ich jetzt wirklich zufrieden und freue mich schon auf den Rennsteig in drei Wochen, wo ich mit Jörg, Kathrin und ein paar Tausend anderen netten Verrückten die 43-km-Strecke absolvieren werde.
Liebe Grüße
Wolfgang