Bis vor wenigen Tagen war ich zusammen mit Martin in Nijmegen, um den dortigen Viertagesmarsch zu absolvieren, der jedoch nach dem ersten Tag abgebrochen wird. Ich reise für ein paar Tage kurzentschlossen in meine Lieblingsstadt, um dort ein paar Tage zu entspannen. In Lübars schlendere ich bei strahlendem Sonnenschein durch die Felder, als mir an einem Radweg das unscheinbare Schild „Berliner Mauerweg“ auffällt. Der Weg sieht einladend aus und der Blick auf den Fernsehturm, der erreichbar nah, aber doch weit genug weg erscheint, macht Lust auf einen kleinen Walk…

Der Fernsehturm wird stetig größer und ich bemerke immer mehr Mauerweg-Schilder. Sollte es gar möglich sein, die komplette ehemalige Mauer abzuwandern. Wie weit mag das sein?

November 2006
Ich habe mich selbst überredet, den Mauerweg in Etappen abzuwandern. Dies hat nicht sehr lange gedauert. Ich beschließe, Mitstreiter zu suchen und stelle meine Idee bei LA und Mitwalken.de vor. Zu meiner großen Freude finden sich schnell potentielle Mitwalker. Harriersand verlinkt eine kleine Fotoserie von einem anderen Mauerweg-Lauf und sorgt dafür, dass ich binnen weniger Tage im Zug Richtung Berlin sitze, um mir den Weg schon mal testweise live anzuschauen. Getreu meinem Motto „Schnell angehen und dann langsam eingehen“ wandere ich den Weg in der Dosierung 67-40-34-20 ab. Aufgrund meines überragenden Talents für Timing gelingt es mir dabei, die optisch reizvollste Siedlung (Invalidensiedlung) im Stockdunklen zu durchqueren. Gut gemacht, Georg!

März/April 2007
Der Beginn der Walking-Saison ist völlig missraten. Ich schleppe mich trotz des hervorragenden Wetters von Erkältung zu Erkältung. Den 6-Stunden-Lauf in Rotenburg breche ich ab; der Halbmarathon in Berlin funktioniert nur mit angezogener Handbremse. Ich bin deprimiert und meine Vorfreude auf den Mauerwalk sinkt rapide.

02.05.2007
Nach 4 Stunden Fahrt trifft mein ICE in Berlin ein. Es ist strahlender Sonnenschein. Ich sehe das sich spiegelnde Licht in der Kuppel des Reichstags, das Brandenburger Tor, den Fernsehturm. Hier werden wir starten und hoffentlich nach 4 Tagen wieder wohlbehalten ankommen. Wir, das sind Eddi, Martin und ich. Eine angenehme Nervosität stellt sich ein und verdrängt allmählich die trüben Gedanken der letzten Wochen. Ich checke im Hotel ein und besuche Martin und Helga in der Regenbogenfabrik. Wenig später gesellt sich Eddi zu der kleinen Runde. Beim Inder füllen wir die Kraftreserven für die nächsten Tage auf. Eddi erzählt, welche Umfänge ihr bisheriges Walking-Training so hatte. Für einen kurzen Moment huscht mir der Gedanke durch den Kopf, dass ihre Teilnahme am Mauerwalk doch sehr ambitioniert ist.
03.05.2007
Punkt 9 Uhr treffen wir uns am Brandenburger Tor. Im Hinterkopf haben wir immer noch die vage Hoffnung, dass sich noch der Eine oder Andere zu uns gesellen wird. Dieser Gedanke verblasst jedoch mit der Zeit. Helga möchte offenbar möglichst entspannte Walker-Gesichter auf die Speicherkarte der Kamera bannen – und welcher Zeitpunkt eignet sich hierzu besser als der Beginn der ersten Etappe.

Wir beginnen den Walk in entspanntem Tempo und gehen Richtung Potsdamer Platz. Obwohl Neubauten die Straße säumen, ist hier an jeder Ecke die Geschichte der Teilung Berlins gegenwärtig. Die Mauerreste, der Checkpoint Charlie und vor allem der auf dem Boden mit zwei Pflasterreihen markierte Verlauf der Mauer rufen in Erinnerung, wie es hier bis 1989 ausgesehen hat. Vorbei an der East Side Gallery, an der das größte relativ unversehrte Stück Mauer erhalten ist, erreichen wir Kreuzberg. Die ersten 6 Kilometer haben wir nun absolviert – das schreit nach einem üppigen zweiten Frühstück. Wir setzen uns in den Schatten und genießen den jungen Tag. Ich erschrecke mich für einen kurzen Moment darüber, wie groß doch ein Bagel sein kann.



An der Stelle, an der die Autobahn noch nicht fertig ist, werden wir auf eine andere Hauptstraße umgeleitet. So fällt die Suche nach einem Lidl oder Aldi zur Auffüllung unserer Getränkevorräte nicht schwer. Martin und ich präsentieren eine Folge aus der Serie „Essen wie unsere Vorfahren“ und verschlingen in Rekordzeit jeweils ein fettiges Bratwürstchen mit Senf…

Nachdem wir den Flughafen Schönefeld passiert haben, verlassen wir endlich die Hauptstraßen und lernen fortan einen kleinen Teil der Hundepopulation Berlins kennen. Der Mauerweg hat Fahrradwegbreite und verdeutlicht an dieser Stelle besonders eklatant den Übergang von Land zu Großstadt. Links sehen wir Pferdeweiden, rechts Hochhaussiedlungen. Wir wandern weiter und merken uns für später schon mal das „Mauerblümchen – Treff für die reifere Jugend“ vor. Um sicherzustellen, dass wir Eddi nicht um die Erfahrung ihres ersten Marathons bringen, schlägt Martin noch einen kleinen Umweg über einen Hügel namens „Dorfblick“ vor. Oben angekommen haben wir einen herrlichen Panoramablick auf die Stadt mit dem weit entfernt liegenden Fernsehturm sowie auf ein mehrköpfiges Filmteam, dessen geschäftiges Tun uns bis zur Abreise rätselhaft bleibt. Man erkennt rege umherlaufende Leute, einen Kameramann, aber keine Schauspieler. Der erste Eindruck, dass am Hügelrand ein Gebüsch gewackelt hätte, entpuppt sich als Fata Morgana.



04.05.2007
Relativ frisch und voller Tatendrang treffen wir uns am Bahnhof Lichtenrade. Wir kaufen Verpflegung für unterwegs und gönnen uns noch einen letzten Kaffee. Es geht weiter auf dem fahrradwegbreiten Kolonnenweg. Nach wenigen Kilometern treffen wir Hans, der ein Stück mit uns läuft und uns die markanten Stellen des Mauerwegs zeigt. Besonders malerisch ist die Kirschbaumallee, in der 800 Kirschbäume ihre Blütenpracht gerade entfalten. Nach 13 Kilometern denkt Hans für einen kurzen Moment laut darüber nach, ein Eiscafe aufzusuchen – und schon sitzen wir drin und schlemmen ein wenig.


Es geht weiter am Teltowkanal entlang. An dieser Stelle gibt es an beiden Seiten des Weges Wohnbebauung. Wir durchqueren einen Wald und überqueren die Autobahn am ehemaligen Grenzkontrollpunkt Dreilinden. Dann erreichen wir Babelsberg. Am Griebnitzsee machen wir eine ausgedehnte Rast und sichten erst einmal unsere kleineren und größeren Blessuren. Martins Füße sind zart wie die Füße eines Neugeborenen, meine Füße sind durch die porösen Laufschuhe schwarz wie die Nacht, aber ohne sichtbare Wunden, Eddi hat sich ein paar Blasen unterschiedlicher Größe gelaufen. Mir geht durch den Kopf, dass es sehr schade wäre, wenn sie den Mauerwalk wegen dieser Blessuren abbrechen müsste.
Nachdem alles verklebt und verarztet ist, geht es munter weiter. Wir besichtigen das etwas heruntergekommene Schloß Babelsberg von außen und erklimmen einen Hügel, um eine recht nichtssagende Sternwarte zu umrunden. Die Sternwarte, die Martin uns eigentlich zeigen wollte, ist in Potsdam, wie wir anschließend erfahren. Unsere Wegweiserin gibt uns mit auf den Weg, dass das aber sehr weit weg sei und man das unmöglich zu Fuß erreichen könne.


05.05.2007
Am dritten Tag ist besonders pünktliches Treffen angesagt. Die Fähre von Wannsee nach Kladow fährt nämlich nur einmal pro Stunde. So beginnt der Tag mit einem relaxten Sonnenbad an Deck der Fähre. Nach Kladow verläuft der Weg durch den Wald vorbei an einem See nach Groß Glienecke. Die Häuser am Ufer sind beeindruckend groß und in faszinierend unterschiedlichen Baustilen. Durch die Rieselfelder gibt es zwei unterschiedliche Streckenführungen – den direkten Weg an der Hauptstraße entlang und den Zickzack-Kurs querfeldein. Angesichts der Tatsache, dass wir uns heute über 46 Kilometer vorgenommen haben, entscheiden wir uns für die direkte aber unattraktive Route. Wir erreichen Staaken und Martin macht uns den Umweg über die Gartenstadt schmackhaft. Dort gibt es malerische hervorragend restaurierte Altbauten. Zum Dank und mangels anderer qualifizierter Kandidaten ernennen wir ihn spontan zum Kulturbeauftragten.



Nach 48,3 Kilometern erreichen wir den Bahnhof Hohen Neuendorf. In diesem Moment sind wir wahrscheinlich alle gleichermaßen froh, dass die letzte Etappe nur gut 30 Kilometer lang sein wird.
06.05.2007
Der Tag der letzten Etappe ist angebrochen. Ich freue mich darüber, dass wir den bisherigen Mauerweg so gut bewältigt haben und dabei eine Menge Spaß hatten und bin zugleich traurig, dass ich mit dieser tollen Truppe nur noch einen weiteren Tag Mauerweg vor mir habe.
Beschwingt gehen wir los und nach dem ersten unerwarteten Ortsausgangsschild stellen wir uns die Frage: „Hat vielleicht mal jemand auf die Karte geguckt?“

Mit frischen Kräften durchqueren wir das Naturschutzgebiet Tegeler Fließ und erreichen die Stelle, an der man zum ersten Mal den Fernsehturm sieht. In diesem Moment wird mir klar, dass wir unser Ziel erreichen werden. Eddi erklärt mir, welche Bedeutung ihre Signatur „Operae pretium est“ hat (Es ist die Mühe wert.) und ich finde, dass es keinen besseren Moment hierfür gegeben hätte.
Nach den Hochhäusern im Märkischen Viertel nähern wir uns unaufhaltsam dem Innenstadtbereich. Wir gehen entlang der Eisenbahntrasse und stärken uns nach 20 Kilometern auf einem Bauernhof mit Kaffee und Kuchen.
Auf den letzten Kilometern lassen wir uns sehr viel Zeit – für den Mauerpark, die Kapelle der Versöhnung und die Gedenkstätte Berliner Mauer. Dort steigen wir die Treppe hinauf und besichtigen das Stück der Mauer, das noch originalgetreu erhalten ist. Mir geht durch den Kopf, dass unsere kleine Walking-Gruppe ohne den Fall der Mauer so nie zustande gekommen wäre. Auch aus diesem Grund finde ich es gut, dass dieses "Bauwerk" nicht mehr da ist.
Wir können den Reichstag sehen, ziehen aber noch ein paar Schleifen, bis wir letztendlich da sind. Helga erwartet uns mit drei Rosen. Zu Viert gehen wir durchs Brandenburger Tor. Es gibt Momente im Leben, die dürften ewig dauern…
Gruß
Georg