
Ich bin Finisher eines Marathons. Im Laufe des Rennens musste ich mich jedoch von allen anderen Zielen verabschieden. Es war ein furchtbares Rennen. 5,5 Stunden Quälerei. Über die vorgenommene Zeit hat der Infekt gewonnen, aber nicht über mich. Ich habe es geschafft und mich durchgekämpft. Das Gefühl des Stolzes verbleibt.
Für den Erfolg alles vorbereitet
Es sollte nichts schief gehen. Aus diesem Grund war weitestgehend Alles generalstabsmäßig geplant. Wir reisten rechtzeitig am Samstag nach Berlin. Die Kinder bei Verwandten ausgesetzt, sollte Susanne und mich nichts ablenken, eine für unsere Verhältnisse Spitzenzeit zu erzielen. Die drei Staus auf dem Weg nach Berlin nervten zwar ein Bisschen, aber dafür blieb das erwartete Verkehrschaos bei der Messe (auch Startnummernausgabe) absolut aus. Wir entschlossen uns aber, nicht lange auf der Messe zu schauen. Es waren dort einfach zu viele Menschen, so dass es keinen Spaß machte, die einzelnen Stände anzuschauen. Beim Hamburg-Marathon war zwar die Messe erheblich kleiner, jedoch viel übersichtlicher und deshalb auch gemütlicher.
Da sich unser Hotel genau auf der anderen Seite von Berlin befand, hat inklusive erneutem Stau die Fahrt entsprechend lange gedauert. Viel später als wir eigentlich vor hatten, checkten wir dann endlich gegen 17 Uhr im Hotel ein.
Telefonisch holte ich mir die letzten Instruktionen von Piet Könnicke, meinem Wundertrainer, von JKRUNNING. Neben einigen wertvollen Informationen, machte er mich auf meine gerade überstandenen Infekte aufmerksam und riet mir daher, erstmal bei 6.00 min/km zu beginnen und dann ab km 4 auf 5.45 - 6.00 zu gehen. Von anderen Läufern weiß ich, dass er und der Meister (Jens Karrass) mit ihren Vorgaben immer sehr dicht am nachher erzählten Ergebnis lagen. Da Susanne und ich uns auf eine Zeit um die 4.30 Std. einigten, die prognostizierte Zeit von Piet bei etwa bei 4.00 bis 4.15 Std. lag, verlor ich mehr und mehr an Angst, aber nicht an Respekt.
Ein kurzer, 25 Minuten dauernder Lauf verlief bei mir super. Ich hatte vorher eigentlich die ganze Zeit Zweifel, wo ich angesichts des Fieber-Infektes vor drei Wochen und des Anfangs dieser Woche beginnenden Erkältung leistungsmäßig stehe. Der Lauf war wie Spazierengehen. Ich sprühte förmlich vor Optimismus über. Susanne ging es anders. Sie war irgendwie kaputt. Anschließend Abendessen, ein wenig Relaxen und rechtzeitig schlafen.
Der Tag der Wahrheit
Überraschenderweise verlief die Nacht super. Ich schlief nahezu durch und fühlte mich bombenfit (gibt’s das Wort überhaupt?). Natürlich fuhren wir zum S-Bahnhof später los, als wir es eigentlich wollten (kann man mit einer Frau jemals pünktlich sein?). Dennoch kamen wir pünktlich vor Abfahrt der S-Bahn an. Auch die Kleiderbeutelabgabe, das Finden des Startblocks, die letzte Benutzung der Toilette war alles kein Problem. Weil ich bei anderen Veranstaltungen die Erfahrung gemacht habe, dass der Garmin (meine GPS-gesteuerte-super-Läuferuhr) recht lange braucht, um genügend Satelliten zu finden, startete ich lieber schon 30 Min vorher. Ging nicht. Schock! Wie ging noch einmal dieses Soft-Reset. Ach ja so. Boah, Glück gehabt, er funktionierte. Was war das nun für eine Meldung: „Batterie sehr schwach”. Das konnte nicht sein. Ich habe ihn gestern Abend noch aufgeladen und es war eindeutig die Meldung „Batterie voll geladen”. Es konnte nur ein Fehler sein. Noch einmal ausgeschaltet und neu eingeschaltet. Es war kein Fehler, die Meldung erschien erneut. Das konnte doch nicht wahr sein. Heißt das jetzt, ohne Uhr meinen ersten Marathon zu laufen? Ich hätte k…können. Egal, jetzt nur nicht unruhig werden. Wird schon, wie auch immer das gehen soll. Einfach verdrängen und auf ein Wunder hoffen.
Der Startschuss
Pünktlich um 9.25 Uhr (zum Glück hatte ich einen alten Fleece - Pullover angezogen, den ich dann am Start entsorgte) startete dann das Feld. Jetzt geht’s endlich los. Gänsehaut, Jetzt wird mir bewusst: Der Moment, auf dem ich mich so lange vorbereitet habe, der mir soviel Entbehrungen gebracht hat.
Ein geiles Gefühl, Jetzt heißt es aufpassen, nur nicht überpacen. Ziel war für die ersten 21 km eine Pace von 6.20 min/km. Das allerdings ist nicht möglich zu halten. Die gesamte Straßenbreite wird von Läufern genutzt, die langsamer als 6.20 sind. Wir überholen ununterbrochen, laufen auf dem Bürgersteig, versuchen alles. Mist denke ich und werde etwas unruhig. Die schöne Zeit, schon jetzt dahin? Ein weiterer Kontrollblick auf den Garmin, ob wir nun schneller werden. Nee, der hat sich verabschiedet. So ein Mist. Ich lächele darüber. Ist der Grund die überall bekannten Glückshormone, die beim Laufen entstehen oder einfach nur Galgenhumor. Ich habe keine Ahnung, wie die weitere Laufsteuerung funktionieren soll, Bin viel zu sehr an den Garmin gewöhnt. Egal, mindestens hat Susanne eine Stoppuhr. Müssen wir halt km für km rechnen. Geht bei anderen ja nun auch. Bei 10 km haben wir fast 1:06 drauf. Knapp drei Minuten über unsere vorgenommene Zeit.
Abschied von der Spitzenzeit
Langsam beginnt es in meinem Magen irgendwie zu rumoren. Ach, wird wohl nichts sein. Bei einem weiteren km sind die Magenkrämpfe soweit, dass ich auf Toilette muss. Super! Anstehen, Geschäft erledigen. Wieder sind wertvolle Minuten verloren. Das Überholen wird nicht einfacher. OK, verabschieden wir uns eben von den 4.20 - 4.30 Stunden. Wird es eben ein Genuss-Lauf. Das beschreibt am Besten, wie es zwischen km 10 und 15 lief. Was natürlich stört, ist das fehlende Gefühl für die Pace. Aber da die Zeit keine Rolle mehr Spielt ist das ohnehin egal.
Fast plötzlich verliere ich bei km 16 meine Kraft. Es läuft nicht mehr rund. Ich bin kaputt. So als ob ich die ersten km viel zu schnell angegangen wäre. Bin ich dem Ganzen nicht gewachsen? Sind das die Folgen meiner nicht ganz ausgeheilten Erkältung? Erste Zweifel regen sich. Aber sicher wird sich das wieder legen. Nach einigen km bin ich wieder fit. Nehme noch ein bisschen Geschwindigkeit zum „Erholen” raus. Die nächste Verpflegungsstation kommt. Weiterlaufen. Jetzt geht’s ein bisschen besser. Zum Glück, ich habe schon einen Schrecken bekommen.
Der Ausstieg
Bei km 20 wendet sich (wieder einmal) das Blatt. Mich verlässt wieder die Kraft, dazu kommt so ein komischer Druck auf meine Brust (Bronchien?). Es schmerzt. Jetzt kämpfe ich richtig. Und das soll 21 km so weiter gehen? Das wird nie was. Nie und nimmer. Ich hätte mit diesem nicht ausgeheiltem Husten nicht laufen sollen. Ich mache noch mal kurz den Garmin an, um zu schauen, wie meine Herzfrequenz ist. Dafür reicht noch der Saft, es funktioniert: 180! Boah, jetzt ist die Moral dahin. Statt den Lauf zu genießen und Mitläufer oder Highlights an der Strecke anzuschauen, geht mein Blick nur noch auf S-Bahnstationen, um schnell zum Start fahren zu können. Aussteigen. Ja, den Traum beerdigen, es macht doch so keinen Sinn.
Irgendwann geht’s nicht mehr, Gehen. Susanne schaut mich ungläubig an. Spornt mich an, und sagt ich solle zur Erholung schnell gehen. Ich habe aber ganz andere Probleme. Mir ist total schwindelig und meine Beine werden weich. Huups, was macht denn da mein Kreislauf? Bloß hinsetzen. Das war jetzt wirklich mein Traum. Ich bin psychisch absolut am Ende. Bin dicht davor, meine Emotionen nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Ich fordere Susanne auf, weiter zulaufen, ihren Lauf zu machen. OK, einmal kann ich es ja noch probieren. Dieser Marathon ist doch mein großes Ziel. Zwei km geht’s gut, weil eine Verpflegungsstation mir einen Moment Gehen gönnt. Dann geht’s wieder los. Wieder Schwindel, wieder sitzen, wieder Susanne zu ihrem eigenen Laufen schicken. Sie sieht ein, es macht keinen Sinn mehr. Sie lässt mich vernünftiger weise zurück und läuft weiter. Mit ihr entfernt sich mein großes Ziel. Das kann es doch nicht gewesen sein. Ich nehme noch einmal die Verfolgung auf und hole sie ein. Sie schaut mich verdutzt an. Ich kriege nur ein „aber nicht so schnell” heraus. Wieder ein Kilometer funktioniert es. Dann wieder gehen. Mehr als langsam gehen hat nicht hin. Wieder laufen. Dann überholen wir Gunther. Er fällt mir auf, weil er ein Laufshirt hat mit der Aufschrift „Achtung Krötenwanderung”. Cool. Ich spreche ihn darauf an. Boah, der sieht ja noch fertiger aus als ich. Er erzählt, dass es sein zweiter Marathon ist und dass er gleich aussteige. Da es eben sein zweiter Marathon ist, könne er aussteigen. Es hat schließlich einen Marathon „in der Tasche”, muss sich nicht mehr beweisen, dass er es drauf hat, zu kämpfen. Das leuchtet mir ein. Ich kann doch nicht einfach meinen Traum aufgeben. Kann ich mich an ihm aufrichten? Ich biete ihm an, gemeinsam zu kämpfen. Er lehnt ab, er ist zu fertig. Ich scheine jedoch noch „gute Beine” zu haben und soll durchziehen. OK, schade, dann eben allein mit Susanne.
Bei einem Kilometer weiter (etwa 27) ist dann endgültig Schluss. Neben Schwindel, wird mir jetzt auch noch übel und ich bekomme einen schmerzenden Hustenanfall. Das kann es alles nicht wert sein. Meine Gesundheit hat schließlich auch Priorität. Ich suche das Zelt der Johanniter auf. Susanne verabschiedet sich nach etlichen Durchhalteparolen und Fragen, ob es nicht doch noch geht. Nein, no Way. Da ich weder Lust habe, kluge Ratschläge zu bekomme noch Mitleid zu ernten, frage ich nur ob ich mich wegen Schwindel einen Augenblick setzten darf. Sie sind alle sehr hilfsbreit. Jetzt 15 min hier sitzen und dann per S-Bahn zurück. Aus 15 min werden 20 Min und es geht mir ein wenig besser. Nicht so gut, dass ich weiter laufen kann, aber gut genug um mich auf den Weg zur nächsten S-Bahn zu machen. Da ich keine Lust habe abseits der Strecke danach zu suchen und unzählige Blicke „och der arme Kerl” zu bekommen, entscheide ich mich, auf der Strecke weiter zu gehen und dort nach einer Station Ausschau zu halten.
Für meinen Traum
Ich denke über meine Vorbereitung nach, über mein Ziel, ja mein Traum. Alles dahin. Verdammt noch mal, die Zeit ist doch Scheiß egal, ich bin es mir schuldig es noch einmal zu probieren. Dank den 20 Minuten, klappt es die nächsten 3 km mit nur geringen Problemen. Es läuft sich nicht schnell, aber es läuft sich. Wieder ist die Kraft weg, wieder gehen. Das kenn ich ja schon. Weiter! Bei Kilometer-Stand 32 denke ich, noch 10 km. Das entspricht exakt meiner geliebten Hausstrecke und die ging bislang immer. Ich fasse das erste Mal seit langer Zeit wieder Hoffnung. Das Laufen wird zwar nicht leichter, aber irgendwie geht’s doch. Nur nicht stehen. Also Laufen - Gehen im Verhältnis ca. 5:1. Nur die Verwirklichung meines Traumes spielt noch eine Rolle. Dann Kilometer 40. Mir wird bewusst, ich werde niemals wieder einen Marathon laufen, aber diesen einen knacke ich. Ich werde diesen Kampf gewinnen. Wie in Trance laufe ich. Die letzte Verpflegungsstation, das Brandenburger Tor, die riesig lange Tribünen-Reihe, das Ziel. 5:33. Es überkommt mich. Ich balle meine Hand zu einer Becker-Faust. Nichts ist mehr übrig von der Enttäuschung, eine halbwegs vernünftige Zeit gelaufen zu sein. Ich habe mir heute selbst etwas bewiesen. Es waren die schlimmsten 5,5 Stunden meines Läuferlebens Ich hätte diesen Marathon niemals laufen dürfen. Aber ich habe es getan und durchgehalten. Diesen Sieg über meine Qualen und letztendlich gegen mich selbst, kann mir niemals jemand mehr nehmen. Übrig ist nur noch der pure Stolz.
Und beim nächsten Mal klappt es auch mit einer vernünftigen Zeit. Dann knacke ich die 4 Stunden. Versprochen!
Wer meinen Laufbericht mit Bildern sehen will, kann ihn hier finden.