Der große Tag war endlich da und ich bin gefühlt jede Stunde wach geworden um zu schaun, ob ich schon endlich aufstehen kann. Der Wecker war auf 6h gestellt, aber um 5h entschied ich dann, dass ich ruhig schon aufstehen kann (an Schlaf war eh nicht mehr zu denken). Also frühstückte ich in Ruhe, packte alle meine Sachen zusammen und war dadurch bereits um 7h am Hauptbahnhof. Dort trank ich noch etwas, spendete 1€ für das Toilettenunternehmen (die Schlange drinne war so lang, dass ich dann doch nur zum Pissoir gegangen bin) und machte mich um halb 8 auf dem Weg zum Startgelände. Die Kleiderabgabe ging problemlos und ich hatte jetzt noch knapp 90 Minuten um meinen Darm zu entleeren. Das war ehrlich gesagt meine größte Sorge während der ganzen Zeit. Zum Glück erinnerte ich mich an einen super Tipp aus dem Forum hier, dass die Dixies direkt an den Startblöcken meistens noch lange leer sind, während sich vorne schon elend lange Schlangen bildeten. Ich bin dann also schon sehr früh zum Startblock und habe ungefähr 10x das folgende Prozeedere durchgeführt: Startblock rein, langeweile und ist ja noch total leer, Blase drückt leicht, lieber mal auf Klo gehen, kurz aufs Klo (Darm wollte immer noch nichts ausgeben), kurz dehnen und locker traben, Starblock rein, langeweile.....
Ca. 30min vor Start klappte es dann auch endlich mit der Darmentleerung und ich wurde sichtlich entspannter (warum schreibe ich hier eigentlich elend lange über meinen Darm???

). Zum Dixie bin ich dann trotzdem noch alle 5 Minuten und die Frauen am Einlass zum Block kannten mich irgendwann schon persönlich.
Inzwischen füllte sich der Block E auch immer mehr und gleich ging der Start für die Elite los. Da der Startblock E für eine Zielzeit von 3:15-3:29 war und ich 3:29 als absolute Obergrenze des irgendwie machbaren ansah, stellte ich mich eher hinten im Block auf (das sollte ich noch bereuen). Das Wetter war (noch) perfekt und als der Start los ging hatte ich fast Tränen in den Augen. Es dauerte fast 5 Minuten bis ich die Startlinie überquert hatte und los ging es mit diesem unbeschreiblichen Ereignis für mich.
KM 1-5: "Es ist sooo schön...aber waren alle um mich herum wirklich so dreist, sich in den falschen Block zu stellen?". Da meine Zielpace immer noch mein großes Fragezeichen war (Trainingsplan irgendwas zwischen 3:15 und 3:29, Runalyze Prognose 3:32) folgte ich einfach dem Rat von Ruca "Es muss sich bis HM wie mit Handbremse laufen anfühlen" und lief ganz locker los. KM 1 lief ich in 5:04 und KM 2 in 5:03. Langsamer als was ich mir zutraute, aber total schön zu laufen. Trotz des langsamen Starttempos war ich die ganze Zeit nur mit überholen beschäftigt und dabei waren sehr sehr viele dabei, die eher eine Pace von 5:30 oder langsamer pro KM liefen. Ich versuchte die Schlangenlinien zu vermeiden und lieber etwas langsamer zu laufen, bis sich eine Lücke ergab. Manchmal ging es dann auch nur mit leichtem Körperkontakt das überholen, was ein paar Läufer mit einem Grummeln quitierten. Beim überholen sah ich auch verdammt oft den Startblock F auf den Startnummern, was entweder hieß, dass die Läufer sich in E geschummelt haben, sie mega schnell den 1.KM gelaufen sind oder die linke Spur am Start viel viel schneller als die rechte war. Es machte trotzdem riesig Spaß und nach 2,5km wartete das erste Mal meine Tochter am Straßenrand und jubelt mir zu. Diese Momente sind immer ein großes Highlight für mich. Es ging vorbei an meiner alten Uni nach Alt-Moabit wo ich die ersten 5 Lebensjahre gewohnt habe. Die Stimmung an der Strecke war toll und es fühlte sich gar nicht anstrengend an. Die erste Wasserstation nutzte ich auch gleich und im Eifer warf ich nicht nur den Becher danach in die Tonne sondern den ersten meiner zwei mitgenommenen Strohalme, da ich mit Strohalm deutlich besser trinken kann (Und mal wieder Dank an Ruca für diesen Tipp)
Zwischenzeit KM 5: 00:25:13
KM 6-10: "Es läuft...aber so langsam muss ich es mal wirklich laufen lassen". Ab KM 5 spürte ich einen leichten Druck in der Blase und bei KM 7 war mir klar, dass ich so nicht noch 35km durchlaufen will. Also bin ich das erste Mal in einem Wettkampf kurz zur Seite ausgetreten und habe es laufen lassen und dabei genau auf die Uhr geschaut (20sek...neuer Rekord

). Mein Tempo hielt ich konstant um die 5min/km und war immer noch ständig am überholen. Jemand mit meiner Pace suchte ich vergeblich.
Zwischenzeit KM 10: 00:50:31 (5km split: 25:19)
KM 10-15: Bei KM 10 entschloss ich mich das Tempo leicht anzuziehen. Bis zum HM war dabei mein Ziel den Puls unter 85% maxHF zu halten und danach immer unter 90%maxHF zu bleiben. Die leichte Erhöhung des Tempos fühlte sich immer noch sehr gut an und ich war jetzt nah an der Pace der meisten Tempodauerläufe während der Vorbereitung (die Tempodauerläufe fand ich die wichtigste Einheit neben den LaLas in der Vorbereitung). Bei KM 10 nahm ich auch meinen ersten Cliff Blok. Für die Ernährung hatte ich mir vorgenommen bei jeder Station einen Becher zu trinken und ab KM 10 alle 5km einen Cliff Block bzw. ab KM 20 dann ein Gel alle 5 zu mir zu nehmen. Die Cliff Blocks finde ich hierbei deutlich angehmer zu verdauen, aber dafür muss man auch sehr viel davon zu sich nehmen um auf die gleiche Menge wie ein Gel zu kommen. Es ging jetzt in Richtung Kreuzberg und immer öfter sah ich kleine Kinder zum abklatschen am Rand, was ich so oft wie möglich mitnahm.
Zwischenzeit KM 15: 01:15:18 (5km split: 24:47)
KM 15-20: Es fühlt sich gut an, aber so langsam merke ich die KM. Es ging jetzt durchs Herz von Kreuzberg und die Stimmung wurde immer besser. Bei KM 17 feuerte mich schon von weitem ein Freund an und es freute mich riesig, da ich ihn schon länger nicht gesehen hatte (ein anderer Freund hatte ihm mein Tracking weitergeleitet). Bei KM 19 wartete mein 1. Gel Vorrat und eine Powerade auf mich. Da ich nicht alle Gels das ganze Rennen schleppen wollte und ich neben Wasser auch noch was isotonisches trinken wollte (Beetster war keine Option) hatte ich meine Eltern mit 2 Flaschen Gatorade und 4 Gels ausgestattet, die sie mir unterwegs reichen sollten. Kurz vorher überlegte ich noch, wie ich es schaffe die 2 Gels und eine Flasche im laufen greifen zu können, aber meine Mutter hatte alles perfekt präpariert und die Gels mit zwei Schießgummis an der Flasche befestigt. Sie hielt dann die Flasche perfekt und ich musste direkt an Kipchoges Helfer vom letzten Jahr denken (werde meine Mutter mal vorschlagen). Bis KM 20 trank ich dann die halbe Flasche, nahm ein erstes Gel und gab den Rest der Flasche an einen Läufer, der kurz vorm gehen war.
Zwischenzeit KM 20: 01:39:51 (5km split: 24:33)
KM 20-25: Jetzt kam der Teil der Strecke auf den ich mich am meisten gefreut habe...Schöneberg! Kurz vor meiner alten Oberschule war die HM Marke und die Stimmung wurde phänomenal. Beim abbiegen in die Hauptstraße standen die Menschen immer dichter an den Läufern und man lief wie durch einen Trichter. Ich fühlte mich wie bei einer Bergankunft der Tour de France und hatte Gänsehaut pur. In der nächsten Kurve stand dann auch schon mein bester Freund und es ging dann weiter Richtung Martin-Luther Straße. Ich war immer noch nur am überholen und es war immer noch voll. Beim abbiegen in die Martin-Luther Straßer kam es dann zum Lowlight des Tages. Ein anderer Läufe nahm die Kurve etwas zu eng und rempelte mich aus Versehen leicht an, dadurch musste ich leicht nach links ausweichen und kam knapp vor einen anderen Läufer den wir beide gerade am überholen waren. Der schubste mich daraufhin von hinten, so dass ich fast zu Fall kam und rief mir noch hinter her, dass er mir nächstes Mal die Beine weghaut. Ich wollte kurz das ganze erklären, aber beließ es dann bei einem "Vollidiot" und lief mein Tempo weiter. Bald ging es dann zu meiner Heimat Friedenau mit der tollen Trommler Band am Innsbrucker, dem Marathon-Balkon wo ich die Familie aus dem Kinderladen kenne und am Forenstand vorbei, wobei ich leider keine Zeit hatte hier irgendwie mich erkenntlich zu machen (hatte kurz überlegt wie ich schnell Hallo und meinen Namen rufe, aber da war er dann auch schon vorbei). Ist auf jeden Fall toll was dort jedes Jahr getan wird für die Läufer und das Forum.
Zwischenzeit HM: 01:45:13
Zwischenzeit KM 25: 02:04:18 (5km split: 24:28)
KM 25-30: Jetzt ging es am Südwestkorso entlang Richtung Wilden Eber und die Stimmung war wieder fantastisch. So langsam wurde der Regen auch stärker, aber es war noch perfektes Laufwetter und noch keine großen Pfützen auf der Straße. Ab KM 25 merkte ich so langsam wie meine rechte Hüfte etwas schmerzte und allgemein merkte ich so langsam die Anstrengung in den Knochen und Muskeln. Die Aussicht, dass es noch 17 km sind machte mir etwas Sorgen, und ich nahm ein ganz kleines bisschen an Pace raus.
Zwischenzeit KM 30: 02:29:08 (5km split: 24:50)
KM 30-35: "Ein Marathon beginnt erst bei KM 30 so richtig" (Ruca war heute ständiger Begleiter in meinem Kopf, obwohl ich ihn noch nie getroffen habe

). Der Regen wurde immer stärker und so langsam waren die Füße durchnass. KM 30-35 waren vom Kopf her am schwersten, da der Respekt vor dem Mann mit dem Hammer groß war und es noch 12km zu bewältigen gilt. Aber meine etwas verlangsamte Pace fühlte sich noch gut an und ich begann langsam zu rechnen, ob eine Sub 3:30h möglich wäre. Das Durchkommen ohne einzubrechen stand aber im Vordergrund und ich blieb daher bei meiner minimal langsameren Pace. Bei KM 33-34 standen meine Eltern für die letzte Getränke und Gel Übergabe bereit (bzw. war das so geplant). Allerdings hatten sie sich leicht verrechnet, so dass ich sie auf einmal am Straßenrand sah und sie gerade erst ihre Fahhräder abstellten. Auf mein zurufen hin, kam meine Mutter auf die Idee mir hinterher rennen zu können und mir alles noch zu reichen. Ich rief ihr zu, sie soll einfach mit dem Fahrrad weiter fahren und es mir später geben, aber musste auch kurz lachen, da der Anblick köstlich war (sie behauptet immer noch sie hätte das geschafft). Kurz danach wartete dann am Kudamm meine Tochter mit ihrem gebastelten "Tap for Power" Schild und ich freute mich riesig das Schild für meinen Endspurt zu nutzen.
Zwischenzeit KM 35: 02:53:58 (5km split: 24:51)
KM 35-40: "Die Angst ist besiegt". Ab KM 35 wurde es körperlich am anstrengensten, aber gleichzeitig war mental eine riesen Befreiung in mir zu spüren. Ich wusste irgendwie, dass ich die letzten 7 km noch schaffen werde ohne den Mann mit dem Hammer zu erleben und selbst wenn ich etwas Tempo rausnehmen würde, hätte ich immer noch eine Top Zeit erreicht. Die schmerzen in Hüfte, Knie und jetzt auch Fußsohlen wurden immer stärker. Ich erinnerte mich dabei an einen Tipp von meinem Trainer beim SCC, dass er in solchen Momenten bewusster die Knie hebt und versucht ganz sauber zu laufen, da die Schmerzen oft auch mit dem immer mehr schlürfenden Schritten bzw. der unsauberen Technik zu tun haben. Das hat erstaunlich gut funktioniert und so konnte ich die Schmerzen immer im Rahmen halten. Kraftmäßig fühlte ich mich aber noch sehr gut und die letzten 2 Verpflegungsstellen des Marathons habe ich auch komplett ausgelassen, da die dann eh eher nur noch ein psychologischen Effekt gehabt hätten, bzw. ich keinen Durst oder ähnliches spürte.
Zwischenzeit KM 40: 03:18:57 (5km split: 24:59)
KM >40: "Ich könnte heulen vor Glück". Ab dem Potsdamer Platz stieg schon so ein Gefühl der puren Euphorie in mir hoch. Ich wusste ich schaffe es und ich wusste ich kann mein Traumziel von Sub 3:30 erreichen. Es fühlte sich einfach toll an und ich spürte auch keine Schmerzen mehr. Ich war nur noch in Trance, wobei die 2 km auf der Leipziger Straße sich sehr zogen. Als es dann endlich bei KM 40 zurück ging, wäre ich am liebsten Vollgas gelaufen, allerdings gaben die Hamstrings immer mal kurz zu bedenken, dass sie auch jederzeit zu krampfen beginnen können, wenn ich jetzt auf völlig dumme Ideen komme. Ich schaffte es aber nochmal auf eine Pace von 4:52/km für die letzten 2195m zu beschleunigen und es war einfach wunderschön. Das Einbiegen auf "Unter den Linden", das durchlaufen des Brandenburger Tors und dann die letzten Meter waren ein unglaubliches Gefühl und ein Lebenstraum ist wahr geworden.
Zielzeit: 3:29:36
Hinter dem Ziel machte dann mein Körper innerhalb einer Sekunde komplett zu. Meine Hüfte und die Knie schmerzten so doll, dass ich kaum gehen konnte. Meine Fußsohlen/Zehen sendeten schmerzen, die ich noch nie kannte. Aber die Freude gewann und ich genoß jede Sekunde auf dem Weg zum Kleiderbeutel, zur S-Bahn und dann in die Badewanne zu Hause, wo die Schmerzen langsam abklangen. Es war toll und morgen werde ich mich dann gleich mal für die Lotterie 2020 anmelden.
