Jörg macht Dehnungsübungen und ich versuche eine Wadenmassage bis wir wieder langsam weitergehen können. Beim Rondell (km 56,8) warten Heike und Gudrun auf uns. Wir waren schon voller Freude sie zum dritten Mal zu sehen und uns für die letzte Etappe nach Schmiedefeld noch ein paar Umarmungen, Küsse und gute Worte als Stärkung abzuholen.
Aber im Moment geht nichts mehr. Der Frust ist groß bei Jörg. Nach ein paar Hundert Metern versucht Jörg wieder anzulaufen. Nach wenigen Schritten wieder das schmerzverzerrte Gesicht - nun sitzt der Krampf im linken Oberschenkel. Wieder dehnen, wieder massieren, zuwarten und dann wieder langsam weitergehen. Die letzten 500 Meter vor dem Rondell laufe ich voraus. Heike hat ein die Durchblutung förderndes Öl dabei und ich hoffe sehr, dass Jörg doch mit mir weitermachen kann.
Als Jörg eintrifft wird er von Heike und Gudrun sofort "verarztet". Plötzlich läutet mein Handy. Gudrun hat es in der Tasche und ich zerre es hastig heraus. Auf der anderen Seite ist der Mechanikermeister der BMW Werkstätte in Suhl dran. Er hat das zweite Wunder unseres Rennsteigwochenendes geschafft und unseren Rover 75 repariert

So weit, so hektisch - aber jetzt von vorne, denn sonst kenn ich mich bald selbst nicht mehr aus:
Gudrun und ich sind am Donnerstag von Wien weggefahren. Gegen 23.00 Uhr wollten wir bei unseren Freunden Heike und Jörg in Arnstadt sein. In der Nähe von Regensburg bemerkte ich, dass die Tankanzeige rapide abfällt. Der Bordcomputer meldete einen Treibstoffverbrauch jenseits von Gut und Böse. Also runter von der A3 und bei einem Autohof die Tankstelle aufgesucht. 57 Liter rinnen in den Tank; und das nach gerade mal 450 Kilometern. Scheiße

Nach kurzem Überlegen fuhren wir weiter nach Arnstadt. Dort angekommen stank der Rover, dessen Heck von feinem Dieselspray total eingesaut war, wie eine ganze Raffinerie.
Freitag morgens hatte Jörg schon eine Werkstätte organisiert. Der Schaden war rasch behoben und Wunder 1 damit erledigt: Irgendeine Halterung an der Einspritzpumpe hatte sich gelöst und war Ursache für die Sauerei. Mit trocken gelegtem Motor und um 65 Euro ärmer rollten wir zufrieden zurück zu Heike und Jörg.
Um 16.00 Uhr machten wir uns auf nach Schmiedefeld: Dort warteten schon Kraxi und Udo um mit uns nach Eisenach zu fahren, wo noch eine SM-Vorabend-Party angesagt war.
Ich freute mich, dass unser braves Auto wieder so gut lief. Kurz vor Schmiedefeld schreckte uns plötzlich ein rasselndes Geräusch auf. Es klang wie Rollsplit, verschwand kurz, war wieder deutlich zu hören und verschwand wieder. Jörg sagte noch: "Schon komisch, wie man nach einer Panne auf jedes ungewöhnliche Geräusch achtet."
Und da war es auch schon wieder. Ehe ich Gelegenheit hatte über die Ursache weiter nachzudenken leuchtete die Ladekontrolle Alarm - und ein paar Sekunden später fiel die Servolenkung aus. Der schwere Wagen ist "ohne" kaum zu lenken. Ich konnte ihn gerade noch auf dem Parkplatz eines Gasthofs zum Stehen bringen.
Was für ein Mist. Wir standen also in dem Ort Allzunah wo nicht mal die Straße einen Namen hat. Eine Stunde Warten auf den Abschleppwagen des ADAC. Für eine Reparatur vor Ort gab es keine Chance. Diese Art Keilriemen wäre bestenfalls in der BMW-Werkstätte in Suhl zu haben. Aber nicht einmal das wäre sicher. Also wurde der Wagen zum Abschleppen an der Hinterachse aufgehängt und Gudrun, Jörg und ich durften mit dem Pannenfahrzeug bis Schmiedefeld mitfahren.
Beim Gasthof Gastinger stiegen wir aus. Jörg hatte Heike schon verständigt, um uns später abzuholen. Wir trafen auf Steffi (Rennschnecke) und Torsten, auf Zwergenkuss und Kolibri. Kraxi und Udo stießen kurz danach dazu. Das Essen in Eisenach hatten wir da bereits aus Zeitmangel abgehakt.
Mir war zu dem Zeitpunkt ohnehin eher zum Kotzen als zum Essen. Aber der Mensch hält ja bekanntlich so Einiges aus. Mit viel Improvisation schafften wir es, Kraxi und Udo nach Eisenach zu bringen. Jörg und ich holten noch rasch unsere Startnummern und ab ging es, nach Hause.
Um 23.00 Uhr lag ich im Bett. Bis zum Läuten meines Handyweckers um 04.00 Uhr wachte ich mehrmals auf. Was, wenn die Werkstätte das Ersatzteil nicht lagernd hat? Dann müssen wir am Sonntag mit dem Leihwagen nach Wien fahren

Samstag: Trotzdem stehe ich mit Jörg um 05.30 Uhr am Hauptplatz von Eisenach. Es hat aufgehört zu regnen. Es ist kühl, aber nicht unangenehm. Wir treffen Lachmöve, wollen Kraxi noch alles Gute wünschen, finden ihn aber unter den 2.000 StarterInnen nicht.
Punkt 06.00 Uhr geht es los.
Wir traben durch die Fußgängerzone hinaus und von Beginn an geht es gleich recht flott bergan. Der Rennsteig SM besteht aus zwei Hälften

Wir treffen auf Jürgen Lange, den Präsidenten des GutsMuths Laufvereines, der selbst mitläuft. Er freut sich über einen neuen Teilnehmerrekord. Mehr als 2.200 LäuferInnen haben für den Supermarathon gemeldet, erzählt er (gestartet sind letztlich nicht ganz 2.000 - der Rest hatte wohl volle Hosen oder sonstiges Fracksausen).
Jörg erkennt in der laufenden Menge auch Chris (Nachtzeche). Wir freuen uns über das Zusammentreffen und unterhalten uns eine Weile angeregt. Aber Chris will schneller vorankommen und ich wünsche ihm alles Gute. Wir sehen uns dann ja ohnehin im schönsten Ziel der Welt

Ehrlich gesagt bin ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht so sicher, jemals nach Schmiedefeld zu kommen. Die Distanz scheint mir nicht zu schaffen zu sein. Also fluche ich still vor mich hin - warum, wieso, weshalb ich das hier mache und überhaupt und außerdem ...
Der Große Inselsberg liegt etwa bei km 25. Wer denkt hier wird's gemütlich, hat sich gründlich getäuscht. Nach dem 910 Meter hohen Berggipfel geht es einen asphaltierten Weg runter. Hier hat's zwar keinen Matsch wie auf vielen Kilometern davor. Dafür ist der nasse Boden aber höllisch rutschig und mit Blättern übersät. Ich habe den Eindruck, auf Schmierseife zu laufen. Von Tempo machen keine Spur! Bei gut 20 Prozent Gefälle kann es einen da ordentlich auf die Schnauze legen. Meine vorderen Oberschenkelmuskel beginnen zu rebellieren. Meine Haare sind vom aufsteigenden Nebel klatschnass und ich habe kalte Hände. Wir eiern den Weg runter, als hätten wir einen sitzen; und als wir endlich unten sind habe ich gefühlte 50 Kilometer in den Beinen. Dabei sind wir erst bei km 26,8 auf der Grenzwiese.
Unsere Lichtblicke, Gudrun und Heike, sind da. Wir halten kurz und Gudrun fragt mich, wie's mir geht: "Scheiße!" bekommt sie zu hören und sie fragt mich, ob ich aussteigen will. Aber aussteigen gibt's nicht.
Weiter geht es über das Heuberghaus und das Possenröder Kreuz zur Ebertswiese. Bis hier hin hat es nicht geregnet und das Wetter wird jetzt sogar noch besser. Etwas Wind und die Sonne vertreiben die Wolken. Wenigstens ein Wunsch, der mir erfüllt wurde.
Es ist trotzdem kühl. Der Boden oft schwierig; entweder von Steinen oder Wurzeln übersät, manchesmal von beidem gleichzeitig, oft von großen Pfützen bedeckt und man muss die ganze Zeit höllisch aufpassen nicht in irgendein Matschloch zu treten, das einem glatt die Schuhe ausziehen könnte.
Dafür riecht der Wald herrlich nach Erde, Laub und Nadelbäumen - die Ausblicke ins Tal sind wunderbar - Scheiße, hoffentlich wird das Auto fertig - ich freue mich mit Jörg hier laufen zu dürfen - Herrgott, du hast noch nicht mal die Marathondistanz zurückgelegt - Gudrun wartet am Parkplatz Neue Ausspanne - muss ich austreten oder nicht? - den Kerl mit seinem Kölner Triathleten-T-Shirt hab ich auch schon fünf Mal überholt - ich glaube, ich bin nicht geeignet zum Ultra-Läufer - jetzt ein Köstritzer trinken, wär das schön - Jörg glaubt, dass wir bis zum Inselsberg zu schnell gelaufen sind - ich glaub, er hat recht - aufpassen, überdimensionale Pfützen am Weg - wie Kraut und Rüben sind meine Gedanken

An der Ausspanne frage ich Gudrun, ob sie von der Werkstätte schon etwas gehört hat. Nichts. Null. Ich bin nicht einmal mehr enttäuscht. Wir laufen weiter, nehmen Steigungen im gehen, laufen wieder, unterhalten uns über alles Mögliche. Aber über Autopannen, Keilriemen und Werkstätten will ich jetzt einfach nicht mehr nachdenken. Prioritäten setzen ist angesagt. Erstens, weil ich es nicht in der Hand habe, ob der Keilriemen aufzutreiben ist, zweitens, weil ich trotz allem ins Ziel nach Schmiedefeld kommen will.
Irgendwo bei Kilometer 46 oder 47 glaube ich es dann zu wissen: Ich werde es schaffen und mit Jörg ins Ziel laufen. Weiß der Geier, woher ich plötzlich diese Überzeugung nehme. Aber ich nehme sie dankbar an, als hätte mir jemand einen lange gehegten Wunsch erfüllt.
Kurz nach dem Grenzadler (54,7 km) reißen uns dann Jörgs Wadenkrämpfe aus unseren Träumen. Am Rondell (nahe Oberhof) dann Wadenmassage, Werkstatttelefonat, Auto fertig - aber Jörg leider auch.
Gudrun und Heike fahren in das nur 20 Minuten entfernte Suhl, um den Rover zu holen. Wir machen am Rennsteig weiter. Immer wieder versucht Jörg zu laufen. Aber der Krampf ist sofort wieder da.
Wir rechnen, ob unser Ziel, unter 9 Stunden zu bleiben, noch realistisch ist. Jörg meint, ich soll loslaufen. Aber er braucht bis zum Gipfel des Großen Beerberg, mit 970 Metern der höchste Punkt der Strecke, ehe er mich überredet hat. Irgendwie fühle ich mich schlecht dabei, als ich dann doch losziehe. Es sind noch etwas über zehn Kilometer - und es werden schließlich die schnellsten zehn des ganzen Rennens. Meine Muskulatur hat sich durch die Wanderung gut erholt und ich will jetzt nur noch ins Ziel. Die Strecke fällt kilometerweit leicht ab, die Wege sind super zu laufen. Ein paar lästige Steigungen sind noch dabei. Eine davon gehe ich. Vor allem aus Sorge, kurz vor dem Ziel doch noch einzubrechen. Was mich aber weiter antreibt ist die Tatsache, dass ich jetzt nur mehr am Überholen bin.
Die letzten drei Kilometer laufe ich mit Martin (im Forum als Mattin bekannt). Wie könnte es anders sein, unterhalten wir uns über unsere weiteren Laufpläne

Ich glaub ich kann das Köstritzer Schwarzbier schon schmecken, ich stelle mir die warme Dusche auf meiner Haut vor und spüre schon Gudrun, die mich drückt.
Dann bin ich am Sportplatz, sehe den Zielbogen, merke, dass ich Martin verloren habe, sehe Gudrun und Heike winken und jubeln, balle die Fäuste und schlucke schwer, als ich die Ziellinie überquere.
Ich bekomme meine Medaille und kann es nicht fassen: Geschafft. 8.46.xx habe ich von Eisenach nach Schmiedefeld gebraucht.
Gudrun kommt mir schon entgegen und ich mag sie eine ganze Weile gar nicht mehr loslassen.
Dann fällt mir Jörg ein. Wir marschieren zurück zu Heike und ich mache in Optimismus, weil ich sage, dass Jörg sicher in einer halben Stunde da sein wird.
Und es gibt tatsächlich noch ein drittes Wunder: Jörgs Beine haben sich doch noch erholt. Die letzten Kilometer konnte er über weite Strecken wieder laufen und mit 8.58.xx bleibt auch er noch unter neun Stunden

Im Festzelt sitzen wir später bei Klößen, Bratwurst und Bier und freuen uns über Kraxi (8er Platz mit unglaublichen 5.49.xx, obwohl ihm noch sein Welschlauf-Sieg in den Beinen steckte), über Schrambo (er schaffte eine tolle 6.52.xx), Nachtzeche und Lachmöve (beide haben ebenfalls tolle 7.30 gebraucht) und plaudern auch mit Laufjoe, Cabo, Viermaerker und mit Udo, der Kraxi die ganze Strecke über am Rad begleitet und gecoacht hat.
Die Rückfahrt nach Wien mit dem reparierten Rover ging heute (am Sonntag) ohne Probleme. Nach knapp sechseinhalb Stunden Fahrt waren wir zu Hause.
Mir geht es gut

Ob ich den Supermarathon schon im kommenden Jahr wieder mache, weiß ich noch nicht. Irgendwie reizt mich auch der Marathon ein drittes Mal - und dabei vor allem das Ziel, die schwierige Strecke unter vier Stunden zu laufen. Aber egal was ich machen werde, eines kann ich bestätigen: Der Rennsteiglauf hat laut Statistik die meisten "Wiederholungstäter" - und ich gehöre definitiv dazu.
Liebe Grüße
Wolfgang
PS.: Vielen Dank noch einmal an Heike und Jörg für eure Gastfreundschaft
