Anmerkung: Mein Bericht hat sich der Streckenlänge angeglichen. Wer nicht alles lesen will, hier die Kurzzusammenfassung: Es war einfach nur geil! Und jetzt der Bericht:
Prolog
Ich sitze im Alten Tanzsaal, am Kehr in Göttingen. Es ist kalt, ich klammere mich an meinen Kaffee. Ich bin müde. Vielleicht war es doch nicht so clever, gestern bis 0:30 Uhr mit 4 anderen Läufern zu sitzen und ein Bier nach dem anderen zu trinken – 3 Stunden Schlaf sind nicht die beste Voraussetzung, um 87 Kilometer mit 2200 Hm zu laufen – Anfang Februar mit ganz viel Schnee erst recht nicht.
Aber genau das habe ich vor. Ich mit insgesamt knapp 140 anderen Bekloppten, die sich auf das Wagnis Brocken-Challenge eingelassen haben.
Was die Organisatoren hier auf die Beine gestellt haben, macht mich auch heute noch fassungslos. Perfekte Organisation, freundschaftlicher, persönlicher Kontakt, einfach ein perfekter Lauf – und das alles für einen guten Zweck. Einfach toll. An dieser Stelle: DANKE!
Um das deutlich zu sagen: Die Challenge ist ein Erlebnis und Wohltätigkeitslauf. Und das merkt man an allen Ecken und Enden. Es gibt keine „echte“ Zeitnahme, keine Siegerehrung, keine Auszeichnungen. Es soll Spaß machen, das Gemeinschaftsgefühl steht im Vordergrund.
Dass der Lauf so stattfinden kann wie er soll, steht erst seit einigen Stunden fest. Zu viel Schnee ist in den letzten Wochen heruntergekommen, einige Streckenabschnitte sind ganz unpassierbar, bei anderen ist es selbst beim Start noch nicht sicher. So wissen wir Läufer nicht, wie weit die Strecke am Ende wirklich sein wird. Was mir im Moment aber auch herzlich egal ist.
Ein bisschen beschämt stehe ich am Start. Wie so oft frage ich mich, was ich hier eigentlich zu suchen habe. Ich Ultra-Neuling ohne sonderliche Erfahrung. Noch nie bin ich weiter als 72 km gelaufen, noch nie in so unwägbarem Gelände wie heute. Um mich herum – fast nur Cracks, zumindest meinem Gefühl nach. Im Auto fuhr ich mit einem 3-fachen UTMB-Finisher, was mich vor Ehrfurcht fast erstarren ließ. Geschichten vom Deutschlandlauf, vom Spartathlon und anderen Dingen machen die Runde. Was tue ich hier? Was maße ich mir an, hier mitlaufen zu wollen? Na ja, die Zeit wird es zeigen, ob hier zurecht stehe. Ich habe gut trainiert, aber nicht ganz so, wie ich es mir gewünscht habe. Aber es muss reichen.
Das Wetter passt: Knapp unter 0 Grad, kaum Wind. Der Schnee liegt sowieso, da ist nichts zu ändern. Der Rucksack ist aufgeschnallt, die Schneeketten angelegt, die Stirnlampe angeschaltet. Es kann losgehen. Ich ahne noch nicht, worauf ich mich hier wirklich einlasse – Brocken-Challenge 2010: Here we go!
Kilometer 0-30: Warmlaufen
Unglaublich, so was zu schreiben, oder? Im Training bin ich nach meiner 30er-Runde immer total platt. Heute soll es, der Theorie nach, nur ein lockerer Aufgalopp werden. Die ersten 30 Kilometer geht es relativ eben dahin. Am Anfang durch den stockfinsteren Göttinger Wald, teilweise Schneematsch, Eis oder Tiefschnee zieren hier den Untergrund. Der Weg wird von Fackeln erleuchtet, der Läuferlindwurm mit mehreren Duzend Stirnlampen ist ein echtes Spektakel. Die ersten 5 Kilometer laufe ich vor mich hin, immer bemüht nicht zu stürzen.
Dann schaue ich auf die Läuferin neben mir – und erkenne Sanna, eine der Organisatorinnen des Laufs, die uns gestern auch mit frisch gepressten Säften verwöhnt hat und Tipps zu einer veganen Ernährung gegeben hat. Ich spreche sie darauf hin an – und es entwickelt sich ein tolles, langes Gespräch über Gott und die Welt. Wir palavern, lachen, diskutieren, unser Tempo passt mit ziemlich genau 6 Minuten pro Kilometern. Langsam wird es hell, die Wege werden besser, jetzt ist es nur noch das Eis, auf das man achten muss. Die kilometer verfliegen nur so. Bei Km 20 kommen wir an die erste echte Steigung, ich komme etwas aus dem Tritt: Reden, laufen und auf den weg konzentrieren überfordert mich. Nach der Tilly-Eiche geht es steil bergab, ich fliege fast auf die Nase, danach geht es wieder flach weiter. Und ehe ich es mich versehe, sind wir bei Rhumequelle angekommen, dem Verpflegungspunkt bei km 30. Ich bin 3 Stunden und 5 Minuten unterwegs, es geht mir blendend. Kurz vor dem VP sticht mich der Hafer und ich nutze den eisfreien, asphaltierten Weg um etwas Tempo zu machen. Bei den Km 28 und 29 steht jeweils eine „4“ auf der Minutenanzeige meines FR.
Ich erinnere mich: Bei km 30 soll die Challenge langsam losgehen. Also noch mal gestärkt (die Verpflegung war DER HAMMER! Ich habe sicherlich kein Gewicht verloren bei diesem Lauf...), und weiter geht es zum ersten anspruchsvolleren Stück:
Kilometer 30-42: Ein kleiner Vorgeschmack
Unmittelbar nach der VP geht es eine lange Steigung hinauf. Hier bin ich noch zu eitel um, zu gehen, Sanna ist da noch schmerzbefreiter als ich: Vor 2 Jahren ist sie auf der ganzen Challenge keinen Schritt gegangen (erst 7 Stunden später kann ich wirklich ermessen, was das bedeutet!). Und so wetzten wir einige Kilometer bergauf, es folgt das Harzvorland.
Hier wird es erstmalig ekelhaft. Auf kleinen Wirtschaftswegen geht es auf und ab. Die Wege sind nicht geräumt, man hat also die Wahl im Schneematsch zu laufen oder in einer Reifenspur. Das geht eigentlich ganz gut, sie ist aber zu schmal um normal zu laufen. Also eiere ich vor mich hin. Das kostet viel Kraft und vor allem Konzentration, da man die Augen die ganze Zeit auf den weißen Untergrund richten muss, um in der Spur bleiben zu können. Verfehlt man diese, sinkt man schnell mal bis zu den Knien im Schnee ein.
Hier laufen wir auf mehrere Läufer auf, unsere Gruppe ist mir aber ein wenig zu langsam unterwegs. Ohne es direkt zu beschließen ziehe ich das Tempo an und löse mich aus der Gruppe. Auf den nächsten 7 Kilometern, die zunächst steil began, dann wieder sanft bergab gehen, überhole ich an die 20 Läufer – was ich gar nicht toll finde. Denn bis jetzt bin ich einfach stupide hinter den anderen hergetrottet, jetzt muss ich selber auf den Weg achten, denn vor mir ist kein Läufer in Sichtweite.
So trotte ich vor mich hin, genieße den Lauf und erreiche nach etwa 4:25 Stunden die Marathonmarke. Als ich zur Verpflegungsstelle komme sehe ich gerade noch 3 Läufer wieder antraben. Also stärke ich mich flugs und eile ihnen nach, denn auf Verlaufen habe ich echt keine Lust! Wobei, „eilen“ ist wohl echt übertrieben, denn es folgt:
Kilometer 42-54: Des Desasters erster Teil: Der Entsafter!
Nach der Verpflegungsstelle geht es eine S-Kurve unter einer Bahnbrücke hindurch – und dann steht man vor einer Schneewand. Nach links kann es nicht gehen – hüfthoher Tiefschnee. Nach rechts auch nicht – hüfthoher Tiefschnee. Aber halt – rechts sind Spuren im Schnee. Und der orange Pfeil bestätigt es: Hier muss ich hoch. Für die nächsten steilen 500 Meter brauche ich sage und schreibe 15 Minuten. Hier ist noch nicht mal gehen möglich, das ist Schneeklettern. Aber ich grinse vor mich hin. Macht Spaß. Und, hey, wir wollten doch die Challenge, oder?
Auch die nächsten 4 Kilometer sind unangenehm. Loser Schnee in der Mitte, Tiefschnee an der Seite – sowohl laufen als auch gehen ist mühsam. Mein Grinsen entgleitet mir irgendwie. Das macht nicht mehr so viel Spaß.
Um so froher bin ich, als wir wieder auf einen besser belaufbaren Weg kommen. Er windet sich leicht bergan, dem Entsafter entgegen.
Viel habe ich über diesen Streckenabschnitt gelesen. Ein 6 Kilometer langer Abschnitt, der einem alles abverlangt. Ich bin gespannt. Erst mal geht es zügig bergab. Und dann – eben dahin. Ich wundere mich, als dieser gerade Weg auch nach einem Kilometer nicht aufhört. Wo bleibt denn die Steigung? Warum ist das hier so anstrengend? Warum bin ich so langsam? Da dämmert es mir – ich bin schon lange am Entsafter. Dieser Drecksweg hier geht richtig heftig bergauf – ohne das man es sieht, ich kann es mir bis heute nicht erklären. Und das geht die nächsten 6 Kilometer so. Unglaublich, wie klang 6 Kilometer sein können! Ich konnte es mir nicht vorstellen, aber dieses Ding zieht einem wirklich alles aus den Knochen. Ich bin echt glücklich, hier nicht alleine zu sein. Zu dritt zuckeln wir die Steigung hoch, schweigend. Aber allein die Gegenwart der anderen bewahrt mich davor zu gehen, zu resignieren. Wie sie mir im Ziel versichert haben, ging es ihnen genau so!
Dann, nach einer Ewigkeit, ist es endlich geschafft: Ich bin am Jagdkopf angekommen. Eigentlich sollte hier eine Verpflegungsstation stehen. Eigentlich. Aber da der eigentliche weitere Streckenverlauf wegen Schneebruchgefahr gesperrt ist, müssen wir auf eine Ausweichrute Und erst an ihrem ende gibt es wieder was zu schlabbern. Aber das ist ja kein Problem, denn diese Ausweichroute wird nur bergab und gerade aus gehen, ohne Steigung, und außerdem nur „so 4-6 Kilometer Umweg“ betragen. Kein Problem also. Und hier findet sich mein größer Fehler dieses Laufes. Kein Problem? Von wegen. Hier beginnt der Horror!
Kilometer 54-64: Des Desasters 2. Teil: der See des Grauens
3 Kilometer fällt der Weg steil in Serpentinen ins Tal hinab. Nicht angenehm für die Knachen, aber ok. Ich wundere mich nur, WIE weit es hier nach unten geht. Endlich, endlich bin ich am See angekommen. Ich weiß: Wir müssen ein kleines Stück am See entlang, dann kommt ein Campingplatz, dann gibt es Futter und einen Shuttle-Service von 1 km, um eine Bundesstraße zu umgehen. Alles kein Thema. Und da ich schon fast 3 Kilometer bergab gelaufen bin, sollte der See ja in spätestens 3 Kilometern umrundet sein. Der Weg ist gut geräumt, das Laufen geht gut. Alles klar. Von wegen.
Dieser scheiß See nimmt kein Ende. Eine Schleife reiht sich an die nächste, aus den 3 Kilometern werden4, 5, 6. Hier lerne ich die Macht des Kopfes kennen. Wie geschrieben: der Weg ist gut zu laufen. Für die Beine kein Thema. Aber mein k#opf will nicht mehr. Nach der 1000sten Kurve, hinter der der Campingplatz immer noch nicht auftaucht, möchte ich mich am liebsten hinsetzen und heulen. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Scheiße. Mehr kann ich nicht mehr denken. Lustlos schleppe ich mich voran, leise schimpfend. Ich verbiete mir zu gehen. Sonst dauert das hier noch länger.
Dann, nach 8 (!!!) Kilometern, bin ich endlich da. Scheiße, war das hart. Das Stück Weg, das am besten zum Laufen ging, war das schlimmste. Alle anderen Läufer, mit denen ich geredet habe, haben das bestätigt. Das war das schlimmste Stück: Die Macht des Kopfes.
Kilometer 64-69 Phönix aus der Asche
Nach einer kurzen Stärkung (Brühe! Gibt es was geileres als Brühe?!?) und einen noch kürzeren Transfer geht es an den Aufstieg zur Lausebuche. Und ich bin so dankbar für diesen steilen anstieg. Ich liebe ihn. Ich hätte ihn am liebsten geküsst! Denn steiler Anstieg heißt: ich darf gehen. Und so wandere ich fröhlich und beschwingt hinauf. Die Krise von vor einer Viertelstunde – wie weggeblasen! Der Weg ist gut zu belaufen, die Umgebung ist herrlich, der Schnee liegt immer höher – traumhaft. Ich muss etwas zusammenreißen wieder anzutraben, aber dann geht es eigentlich wirklich gut. Die meiste Zeit trabe ich stetig vor mich hin und kann den Lauf genießen. Kurz vor der Lausebuche wird mir von Wanderern zugerufen, dass ich auf Rang 9 liege – ich kann das nicht so recht glauben, das passt nicht wirklich zu meinem Selbstbild. Aber eigentlich ist die Platzierung heute auch total egal. Ich will da oben ankommen. Mehr nicht!
Kilometer 69-79 Zu zweit ist man weniger allein
Ab der Lausebuche geht es noch mal richtig zur Sache: Zwar liegen die Verpflegungsstellen jetzt sehr nah beieinander (7, 4 und 8 Kilometer), aber es wird jetzt richtig steil und der Weg wird tückisch. Außerdem sind noch einige Höhenmeter bis zum Brocken zu machen. Es sind Loipen gespurt, es herrscht reger Verkehr. Auf den Loipen darf man nicht laufen, und man hat nur ca. 20 cm neben den Loipen platz, wenn man nicht im Schnee versinken will. Und selbst hier sinkt man immer wieder wenige Zentimeter ein. Klingt nicht schlimm, aber das nimmt dem Abdruck sämtliche Kraft und macht das Laufen fast unmöglich.
Ungefähr 20 Kilometer vor dem Ziel dreht sich der Läufer, der schon seit geraumer Zeit ca. 50 Meter vor mir läuft, um und winkt mich mit einem wirschen „Jetzt komm endlich her!“ zu sich. Ächzend schließe ich auf und Jürgen begrüßt mich mit den Worten „Komm, das machen wir jetzt zusammen zuende.“ Und das tun wir. Zu meinem Glück. Denn Jürgen hat Erfahrung und zieht und motiviert mich. Er wandert erheblich zügiger als ich, so dass ich nicht in die Versuchung komme rumzuschlurfen. Wir motivieren uns immer wieder gegenseitig wieder anzutraben und wenigstens noch ein bisschen zu laufen, nicht nur zu gehen. Jetzt merke ich so langsam, dass es mir reicht. Nur noch 12 Kilometer – und das Wissen, dass ich hierfür wahrscheinlich mehr als 1 ¾ Stunden brauchen werde – das zehrt an den Nerven. Und selbst wenn ich es schaffe, mal nen ganzen Kilometer durchzulaufen, ist die Zeit immer noch bei weit über 7 Minuten pro Kilometer, oft noch langsamer. Aber es geht nicht mehr: Der Weg ist zu steil, die Wege zu schlecht, die Kraft zu gering. Auch der dezente Traum, unter 10 Stunden zubleiben, hat sich verflüchtigt. Das ist nicht mehr zu schaffen. Also schleppe ich mich dahin und versuche das Ganze noch sie viel wie möglich zu genießen. Gelingt auch ganz gut!
Kilometer 79-87 Am Ende
Wie lang braucht man für 8 Kilometer? Für diese 8 brauche ich 1 Stunde 10 Minuten. Und ich bin wieder froh über Jürgens Erfahrung. Denn genau diese Zeit kalkuliert er ein. So konnte ich mich darauf einstellen und wurde nicht von einer neuerlichen „Kopf-Attacke“ heimgesucht.
Die Rampe zu den Gleisen hinauf kann man nur Gehen, da ist, ich glaube selbst im fitten Zustand, nichts anderes möglich. Steigungen bis 30% lassen einfach nicht mehr zu. An den Schienen entlang kann man wieder ab und zu laufen, auch wenn der Untergrund ziemlich schwer ist. Auf dem Gipfel liegen sage und schreibe 160 cm Schnee! Höhepunkt für mich sind hier die zahlreichen Spaziergänger um uns herum, bzw. ihre Reaktion auf uns: „Ihr seht gut aus, wie lange seid ihr unterwegs?“ „10 Stunden“ „WIE BITTE???“. Oder: „Klasse! Kommt ihr aus Schierke [ca. 8 Km entfernt, am Fuß des Brockens]?“ „Nö, aus Göttingen!“ – Schweigen...
Die erste Hälfte der Brockenstraße gehen wir, dann gebietet es die Ehre, die letzten 300 Meter zu laufen. Im Ziel werden wir super-herzlich begrüßt, meine Uhr stoppt bei 10 Stunden und 14 Minuten, wir landen auf einem geteilten 7. Platz – unglaublich! Ich wanke hinein, freue mich auf Dusche, Bier und Erbsensuppe!
Epilog
Mir tut alles weh. Wirklich alles. Aber es war soooo geil. Ich war in der Nacht um 4:30 zuhause, bin um 7 Uhr wieder aufgestanden. Ich bin total alle. Aber dieser Lauf war alles wert. So was habe ich noch nicht erlebt. So eine geniale, liebevolle Orga, tolle Mitläufer, eine grandiose Landschaft, eine anspruchsvolle Strecke und echt widrige Bedingungen. Dagegen ist der Rennsteig echt Kindergeburtstag! Eine echte Challenge eben!
Fazit: Wenn ihr die Gelegenheit habt, hier mitzumachen tut es. Es wird unvergesslich. Aber zieht euch warm an – im Wortsinn und im Übertragenen!
Danke für Durchhalten,
nachtzeche
Ein Berg, 140 Bekloppte und unendlich viel Schnee: Die Brocken-Challenge 2010
1"Die auf den Herrn harren kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden!" (Die Bibel, Jesaja 40,31)