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von aghamemnun
So, jetzt habe ich mir die Sendung auch mal angesehen. Besonders aufschlußreich fand ich, daß das Problem mal nicht so sehr aus der Perspektive des Ehrgeizes der Sportler beleuchtet wurde, sondern ein wenig mehr von dem Leistungsdruck her, dem sie vonseiten der Vereine, Politiker und der Gesellschaft her ausgesetzt sind. Das halte ich für einen Schritt in die richtige Richtung. Die stereotypischen Formulierungen in den gängigen Nachrichten lauten ja normalerweise "Sportler/in XY hat gedopt/betrogen". Schuld ist also immer der Athlet selbst. Daß das ganze auch ein soziales Problem ist, in das noch viele andere genauso involviert sind, bleibt i.d.R. außenvor.
Die Sendung gipfelte für mich denn auch in dem Satz einer französischen Wissenschaftlerin, der schon ziemlich früh fiel: "Die Sportler werden dem sozialen Frieden geopfert." Leider wurde dieses heiße Eisen im weiteren Verlauf dann doch nicht angefaßt.
Sport scheint ja schon immer eine sozial und politisch stabilisierende Funktion gehabt zu haben. Ursprünglich wahrscheinlich vor allem als Substitut für kriegerische Auseinandersetzungen (z.B. waren ja die Olympischen Spiele heilige Spiele, während derer all die üblichen Konflikte zu ruhen hatten), später und heute wohl vor allem zur Wahrung des sozialen Friedens. Vor allem unter den Fans werden ja durch sportliche Großereignisse Energien kanalisiert, die sich sonst wahrscheinlich an anderer Stelle Luft machen würden. Sozialgefälle und sonstige Probleme werden zumindest mal für ein Weilchen kaschiert, und wenn Özil ein Tor schießt, fallen sich schon mal aus Versehen der Neonazi und der Türke in die Arme. Macht nichts. Der Spuk ist ja spätestens nach dem Finale wieder vorbei, und man greift wieder zum Baseballschläger, dem Nachfolger der steinzeitlichen Keule. An alldem hat sich seit den Gladiatorenkämpfen der römischen Kaiserzeit wenig geändert.
Im Moment fliegt dieser Ansatz der FIFA ja ein wenig um die Ohren angesichts der sozialen Konflikte, die die Vorbereitung (und vielleicht auch Durchführung, warten wir's mal ab) der Fußball-Weltmeisterschaften in Brasilien und Qatar mit sich bringt. Funktionäre und örtliche Politiker haben einfach nicht bedacht, daß dort, wo die Veranstaltungen stattfinden sollen, ja auch ganz normale Leute leben, auf deren Kosten das ganze geht. Inzwischen wird auch schon wieder diskutiert, ob man solche Ereignisse überhaupt in Ländern stattfinden lassen, in denen zu befürchten steht, daß diese kurzzeitige und vordergründige Harmonie vor und während der Veranstaltung durch innenpolitische Probleme bedroht ist, die einem einen differenzierten Blick auf das Gastgeberland und womöglich noch sich selbst abnötigen. Immerhin zeigen diese Konflikte, daß die Menschen in Brasilien offensichtlich mündiger und reifer sind als die in Rußland. Dort haben sie ja während der Spiele in Sotschi allgemein die Klappe gehalten.
Die Tour de France ist schon immer ein Ereignis gewesen, mit dem Frankreich sich selbst gefeiert hat. Das sei ihnen gegönnt. Ich verstehe das, schließlich schlägt mein Herz auch immer ein wenig höher, wenn ich die Grenze nach Frankreich überschreite. Aber was bedeutet diese Selbstinszenierung in Zeiten, in denen dort der Front National bei der Europawahl stärkste Partei wird? Wird sich das bis in die Tour hinein auswirken? Und werden Teams und Fahrer sich das bieten lassen, wird es ihnen egal sein und sie schlucken weiterhin brav ihr EPO? Oder wird mal jemand laut etwas sagen?
Damit Sportereignisse ihre politisch und sozial sedierende Wirkung auch weiterhin entfalten können, muß natürlich ihr Faszinosum erhalten bleiben. Dazu gehört auch, daß die Leistungen nach Möglichkeit immer besser werden ("Citius, altius, fortius"). Dafür müssen dann Menschen herhalten, die vielleicht ursprünglich einfach nur Freude an einem bestimmten Sport hatten und/oder wegen ihrer prekären sozialen Situation mangels adäquater Alternativen kaum eine Chance haben, sich den Avancen und Präparaten von Vereinen und sonstigen Funktionären und damit der Mühle von Leistungsdruck, Doping usw. zu widersetzen.
Die Frage wäre also eigentlich weniger, warum die Sportler mit illegalen Mitteln arbeiten und/oder sich diesem Druck aussetzen, sondern was all das über die Gesellschaft aussagt, in der so etwas geschieht. Das kam in der Sendung noch etwas kurz, aber vielleicht gibt es ja mal eine Fortsetzung, in der das dann thematisiert wird.
Дуа кинум йах иди, ту пуц ца бофт тар ту-хез йатов̌!