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von aghamemnun
An dieser Stelle wage ich einmal ein Gedankenspiel. Darf man das überhaupt in solchen Zeiten, bei einem solchen Anlaß? Nun, bei den ganz kleinen Kindern können wir beobachten, wie das Spiel seinen Anfang nimmt: Da werden Gegenstände be-griffen und mit großen Augen nicht nur von einer Seite betrachtet, sondern in alle Richtungen gedreht und dann auch geschüttelt, um zu hören, was sie für Geräusche machen. Dieses Verfahren ist entwicklungspsychologisch so genial, daß wir es nicht den Kindern überlassen sollten.
In Wirklichkeit hat der Laufsport doch seine Unschuld längst verloren, und natürlich wissen wir das auch. Die Verantwortbarkeit von Fernreisen für Laufveranstaltungen oder auch die Arbeitsbedingungen derjenigen, die unsere Laufbekleidung fertigen, werden nicht zuletzt in diesem Forum immer mal wieder diskutiert. Mit Recht. Schließlich gibt es hienieden nirgends eine Insel der Seligen, und Engel sind wir alle auch nicht. Wie nun, wenn der Anschlag gegen diese schmutzige Seite des Laufsports gerichtet gewesen wäre, ob nun durch die Hand von Betroffenen oder in deren Namen (i.d.R. nehmen Terroristen ja letzteres für sich in Anspruch; den wirklichen Opfern steht Gewalt in den seltensten Fällen zu Gebote)? Es wäre doch nicht das erste Mal, daß Idealismus und Einsatz für eine bessere und fairere Welt sich in Fanatismus und Terror verkehren.
Ganz nüchtern betrachtet ist ein solches Szenario auch nicht weniger plausibel als die Theorien, über die bisher offen geredet wird. Die üblichen Verdächtigen sind ja auch in diesem Thread schon benannt worden.
Was ist jetzt das Skandalöse an diesem Gedankenspiel?
Mit unserer Trauer stellen wir uns an die Seite der Opfer. Das ist legitim und wichtig, denn das ist es doch, was Empathie überhaupt erst möglich macht. Außerdem wird es dadurch möglich, zusammen mit den Opfern, nicht von oben herab und ohne bevormundenden Paternalismus den Weg aus der Opferposition heraus zu finden. Ob wir diesen Weg dann auch wirklich gehen oder irgendwo im Unkonkreten steckenbleiben, steht auf einem anderen Blatt, aber zumindest die Möglichkeit besteht ja.
Das ist aber nur die eine Seite. Die Trauer, diese Empathie mit den Opfern, verschafft uns nämlich auch die wohltuende Gewißheit, daß wir selbst zu den Betroffenen gehören - und damit zu den Guten, die den Bösen gegenüberstehen!
Anders gesagt: Die Trauer birgt das Potential zur Veränderung einer skandalösen Welt, aber auch die Gefahr der Bestätigung und Verfestigung einer Welt, die immer wieder über Leichen geht, sowie einer Selbstwahrnehmung, die die eigene Person grundsätzlich nie als Mittäter in den Blick nimmt.
Das Gedankenspiel vom Ökoterrorismus mag noch so weit hergeholt sein - die bloße Möglichkeit, daß es so gewesen sein könnte, hängt über uns als Damoklesschwert der Dekonstruktion eines knallrosa gezeichneten Selbstbildes. Sich dieser Einsicht zu stellen, verlangt die Fähigkeit, sich von sich selbst zu distanzieren und sich von außen zu betrachten. Es ist eine schwer erträgliche Position, auf die man sich dazu begeben muß, denn man sieht sich ja nicht mehr als denjenigen, der man gern wäre. Um den nüchternen Sachverhalt mit etwas mehr Pathos zu würzen: Diese Art von Ehrlichkeit führt leicht in eine Identitätskrise. Schon die vage Ahnung, daß es hinter dem Spiegel vielleicht noch was anderes gibt, löst häufig ein Unwohlsein aus, das sich z.B. in verbalen Ausfällen unterschiedlichster Art Luft macht. Sowas ist sogar ziemlich normal und beschränkt sich keineswegs auf die Pubertät, wo ja viele gern als besonders cool im Umgang mit den Zumutungen erscheinen möchten, die man Kindern zu ersparen versucht und die sie sich jetzt erarbeiten müssen.
Umgekehrt heißt das: Wo diese Ausfälle begegnen, wäre es immerhin denkbar, daß da jemand diesen Schritt aus sich selbst heraus gewagt hat oder auch bloß rausgestolpert und damit vielleicht weiter gekommen ist als diejenigen, die ihm seine Äußerungen vorwerfen. Womit sie möglicherweise doch nur zu erkennen geben, daß nach der ersten Bedrohung ihrer heilen Welt durch die Anschläge die Grenze ihrer Leidensfähigkeit erreicht ist und sie weitere Schläge durch einen rüden Jargon, der ihren Bedürfnissen nicht entspricht, nicht mehr verkraften. Ein nachvollziehbares Bedürfnis, aber eben auch eins, das für sich keine privilegierte Rücksichtnahme beanspruchen kann.
Ich behaupte nicht, daß es sich so verhält. Aber solange niemand es besser weiß, rate ich dringend zu mehr Ruhe und Gelassenheit.
Und noch eins: Eine PN ist eine PN. Eigentlich ganz einfach. Es bedeutet nämlich nichts anderes, als daß der Inhalt vom Empfänger vertraulich zu behandeln ist. Und genau das ist es, was die PN zu so einem wertvollen Werkzeug zur Entschärfung von Diskussionen und Klärung von Mißverständnissen macht. Auch mir hat das manches Mal die Möglichkeit gegeben, entgleiste Debatten wieder einzufangen und zu Leuten, mit denen ich mich zuvor gestritten hatte, sehr angenehme Beziehungen aufzubauen. Einige der Mitdiskutierenden wissen das. Ich will mich weiterhin darauf verlassen können, daß dieses System funktioniert. So übel kann hier gar niemand schreiben, wie diejenige Person sich verhält, die den Inhalt einer PN an die große Glocke hängt.
Дуа кинум йах иди, ту пуц ца бофт тар ту-хез йатов̌!