Silvesterlauf
Ich bin ja überhaupt kein Wettkampftyp, entsprechend nervös bin ich den ganzen Vormittag. Trinke ich genug? Was ziehe ich an? Wie werde ich auf die Menschenmenge reagieren? Hält mein Kreislauf durch?
Meine Güte, es ist nur ein Dorfrennen, an dem überwiegend Familien teilnehmen, aber mein Kopf macht daraus eine Olympiade

.
Da ich ein Nervenbündel bin, ziehen wir uns an und fahren zur Veranstaltung, obwohl noch über eine Stunde Zeit ist. Ich werde meine Nerven besser in den Griff bekommen, wenn ich mir vor Ort alles genau ansehe und auf mich wirken lasse.
Wir holen die Startnummern ab und sehen uns in Ruhe um. Ich treffe eine Kollegin, wir reden ein paar Worte. So langsam komme ich in der Atmosphäre an und etwas zur Ruhe.
Mit 6 Grad ist es zu kalt, um einfach nur rumzustehen. Wir bringen unseren Kram zum Auto und befestigen die Startnummern. Dann laufen wir ganz langsam um den Block, um etwas Wärme in den Körper zu bekommen. Ich bin ja kein schneller Läufer, aber so einen kompletten Kaltstart im Winter will ich mir nicht antun. Und tatsächlich, die Bewegung nimmt noch viel von meiner Unruhe und Aufregung weg. Zum Schluss will ich wissen, wie sich Geschwindigkeit heute anfühlt und mache für ein winziges Stück Tempo. Hmh, ja, geht.
Wir treffen die Kollegin am Start wieder, als wir uns im Pulk aufstellen. Ich bin mal mutig und stelle mich nicht ganz hinten hin

. Wir wünschen uns einen tollen Lauf, dann geht es los. Naja, erstmal geht vor lauter Gedränge und Geschiebe gar nichts los. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis wir endlich frei laufen können. Ich bin froh über meinen aufgewärmten Körper und komme erstaunlich gut in Gang. Mit meinem Mann ist verabredet, dass jeder sein eigenes Rennen läuft. Ich gucke mal, wie lange ich mit ihm mithalten kann. Auf dem ersten Kilometer gelingt mir das ganz gut. 6:37 steht auf der Uhr, was ich bei dem schleppenden Start ganz erstaunlich finde.
Auf dem 2. Kilometer verlässt mich mein Mann und läuft davon. Gute Reise! Die Strecke geht kreuz und quer durch den Ort, und bei einer Kurve rempelt mich von hinten ein Berg von einem Mann an. Ich sehe mich schon ungebremst auf den Asphalt knallen, kann mich aber zum Glück noch abfangen. Immerhin habe ich noch die Kraft, ihn ordentlich anzubrüllen. Der Gorilla entschuldigt sich kleinlaut und tappst von dannen. Mir treibt der Schubser vor Wut den Puls noch weiter hoch, aber mit 6:05 auf der Uhr bin ich super unterwegs.
Auf dem 3. Kilometer läuft es immer noch prima. Ich habe Zeit, mir die Leute um mich herum anzusehen. Ich freue mich über die Zuschauer, die uns anfeuern. So langsam bildet sich eine lockere Gruppe um mich herum. Aha, da sind die beiden jungen Mädchen, das Paar in gleichen Klamotten, der ältere Herr, der ungute Geräusche mit der Nase macht, und natürlich die Krawall-Oma, wie ich sie im Stillen getauft habe. Einige Jährchen älter als ich, etwas kleiner, aber mit riesigen Kopfhörern bewaffnet, aus denen unfassbarer Krach dröhnt. Ich weiß nicht, was Oma hört, Volksmusik ist es jedenfalls nicht. Irgendwas aus dem Bereich irre laute Rockmusik, die ihr eigentlich die Trommelfelle platzen lassen müsste.
Sie wird mein Fixpunkt in diesem Durcheinander. Sobald ich sie von hinten anlärmen höre, werde ich schneller

. 6:11 für den dritten Kilometer.
Ich werde müde, das halte ich nicht mehr lange durch. Aber die Strecke ist mit 6,9 Kilometern noch lange nicht zu Ende. Ich muss irgendwas machen. Einfach nur langsamer werden hilft mir jetzt nicht viel. Mein Puls ist bei 170+, der muss jetzt schnell runter. Und so mache ich auf den nächsten drei Kilometern jeweils eine Minute Gehpause. Ich hole meine Gruppe immer wieder ein, baue durch die kurzen Pausen aber nicht komplett ab.
6:40, 6:40, 6:34 für die Kilometer 4, 5 und 6.
Es geht langsam aufs Ziel zu. Meine Beine mögen inzwischen nicht mehr. Aber hier stehen so viele Leute und feuern uns an, da mache ich bestimmt keine Gehpause mehr. Ich hole den letzten Rest Kraft aus den Geheimreserven (6:22!) und habe nur noch die Uhr über dem Ziel im Blick.
Mein Wunsch war es, unter 45 Minuten zu bleiben. Manchmal werden Wünsche wahr

. Bei 43:00 überquere ich die Ziellinie.
Mein Mann wartet direkt hinterm Ziel auf mich. Ich lasse mich kraftlos in seine Arme fallen. Gleich danach muss ich mich erstmal auf den Boden setzten und ein paar Augenblicke zu Atem kommen. Nach einem Becher Tee geht es mir blendend, und ich plappere auf meinen Gatten ein

. Er ist mit seinem Lauf sehr zufrieden. Ich bin einfach nur glücklich, dass ich das so gut hingekriegt habe.
Guten Rutsch und ein tolles 2020

.
Für die Statistik:
6,90 Kilometer, Dauer 43:00
Pace 6:15, Puls 163 (max. 174)