Bevor es am Wochenende neue Heldentaten zu berichten geben wird, hier noch mein London Bericht. Ich warne euch schon mal vor, er hat deutlich Überlänge
Ich mache diese Berichte ja immer auch für mich selbst, quasi als Erinnerungsstück. Gekürzt habe ich diesmal nichts, schon das schreiben hat sich lange genug hingezogen.
London Marathon 2024 – „Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert“
Anreise und Vorbereitung
Nachdem die Vorbereitung mit einem letzten kurzen Lauf auf deutschem Boden abgeschlossen war, ging es am Freitagnachmittag mit dem Flieger nach London. Aufgrund der kurzfristigen Zusage wurde es leider der erste Marathon, zu dem ich komplett allein gereist bin. Die Anreise funktionierte problemlos und mit meinem Hotel hatte ich es wirklich sehr gut getroffen.
Am Samstagmorgen ging es auf einen kurzen Shake-out Run an der Themse. Hier konnte man schon die Dimensionen des Marathons spüren. Neben den unzähligen Touristen traf man teilweise große Gruppen von Läufern. Auch konnte ich schon mal die letzten Kilometer der Strecke inspizieren.
Danach stand der Pflichtbesuch auf der Messe an, um die Startnummer und den Klamottenbeutel abzuholen. Das ging trotz der Menschenmassen recht flott. Wie üblich bei den Majors wurde man danach noch über die gesamte Messe geführt, bevor man zum Ausgang kam. Ich bin und werde kein Freund dieser Veranstaltungen. Also Kopfhörer ins Ohr, Lieblingsmusik an und einfach gemütlich durch die Gänge geschoben.
Den Rest des Tages verbrachte ich entspannt im Hotel, legte die Beine hoch und begann mich mental auf den Marathon einzustellen. Ich mag es vor dem Rennen nochmal komplett runterzufahren und nicht mehr über Strecke, Wetter und Renntaktik nachzudenken. Auch die Ausrüstung für den Morgen legte ich bereits zurecht und packte meinen Kleidersack. So ging es nach einem selbst gemachten Abendessen und einem kleinen Bier als Einschlafhilfe gegen 22 Uhr ins Bett.
Der Weg zum Start
Der Morgen begann um 6:45 Uhr, eine wirkliche humane Zeit, wenn man bedenkt, dass ich in Boston und Chicago schon 4:30 Uhr aufstehen musste. Beim Frühstück folgte ich meiner etablierten Routine: 3 Brötchen mit Honig, Orangensaft, ein Espresso. Kurz nach 8 Uhr geht es los zum Start. Da es sich bei London um einen Point-to-Point Kurs handelt und der Großteil der Teilnehmer sich für eine Unterkunft im Zentrum der Stadt in Nähe zum Ziel entscheidet, ist auf den Straßen schon einiges los. Man ist allerdings darauf vorbereitet und setzt Sonderzüge ein und auf dem Bahnhof weisen unzählige Volunteers den Weg zum richtigen Zug. Ich habe Glück und ergattere sogar noch einen Sitzplatz. Der Zug ist brechend voll, am einzigen Zwischenstopp können die dort Wartenden noch gerade so ein Plätzchen ergattern.
Wir kommen in Blackheath an. Die Masse quetscht sich aus dem Zug und die Straßen zum Startgelände entlang. Wieder habe ich zum Abschalten meine Kopfhörer drin, versuche entspannt zu bleiben und keinerlei Energie zu verschwenden. Auf dem riesigen Gelände ist es um 9 Uhr noch relativ leer. Also schnell noch mal die Toiletten nutzen. Eine gute Entscheidung. Schon kurz danach bilden sich lange Schlangen an den VIEL zu wenigen Örtchen. Während fast alles großartig organisiert war, kann man darüber wirklich nur den Kopf schütteln. Es hätte mehr als genug Platz gegeben.
Ich schaue auf die Uhr, es ist eigentlich Zeit zum Warmlaufen, nur stellt sich mir die Frage, wo ich das denn bitte tuen sollte. Die Wiese hatte sich mittlerweile mit tausenden Läufern gefüllt. Also noch ein bisschen in der Sonne relaxt und erst im letzten Moment die warmen Sachen in den Beutel gepackt und am LKW abgegeben.
Um nicht komplett kalt am Start zu stehen, entscheide ich mich vorsichtig im Zickzack zwischen den Sitzenden noch ein paar Runden zu drehen. Da es sich bereits um meinen 4. Major Marathon handelt hatte ich das auch schon so erwartet. Ich blieb also ruhig und begab mich pünktlich 12 Minuten vor dem Start zum Ausgang. Das Wetter war perfekt: kühl, zum Start zog Bewölkung auf und der böige Wind kam zumindest aus Norden, während die Strecke hauptsächlich in Ost-West-Richtung verläuft.
Ich war in der ersten Startgruppe, allerdings durften vor uns noch die Profis und die Teilnehmer der „UK-Championships“ starten. Dies hatte ich zwar vorab gelesen, allerdings eher mit einem kleinen und schnellen Feld gerechnet, an das man sich vielleicht mit dranhängen kann. Ich war überrascht, als dort plötzlich mehrere tausend Läufer an den Start gingen. Mir schwante hier bereits nichts Gutes. Ich ging nochmal schnell den Plan für das Rennen durch: nicht zu schnell starten, erste Hälfte in ca. 1:15h angehen, Verpflegung bei 10-18-25-32km, ab km30 alles raushauen was geht. Ich fühlte mich gut, entspannt, locker, ich war mir meiner extrem guten Form bewusst.
DAS RENNEN
Endlich ging es los, wir durften zum Start. Das übliche Geschiebe und Gedränge, ich blieb entspannt und ließ die Übermotivierten an mir vorbei. Relativ unspektakulär ging es dann auch sofort los. Da der Start weit außerhalb des Zentrums ist, gab es hier nur recht wenige Zuschauer. Die ersten Kilometer gehen leicht bergauf, so dass es mir nicht schwer fiel sehr locker zu machen. Nichtsdestotrotz liefen wir bereits nach 1 Minute auf die letzten Starter der UK-Championship auf, die in 5+ Pace unterwegs waren. Es entspann sich nun ein hektischer und unrhythmischer Zickzack-Lauf. Ich war genervt, vor allem auch davon, dass diese Läufer nicht etwa an den Rand gingen, sondern teilweise zu sechst nebeneinander liefen. Das Gerangel und das ungleichmäßige Tempo ließen es nicht zu, in irgendeinen Rhythmus zu kommen.
Nach 2,5km war der höchste Punkt des gesamten Kurses erreicht. Nun ging es zunächst leicht runter und bei Kilometer 4 in einen recht steilen Bergab-Abschnitt. Aus der schlechten Erfahrung von Boston hatte ich gelernt und ließ es hier bewusst locker angehen. Es kam eine Linkskurve auf eine größere Straße, die uns in nördliche Richtung führte, da passierte es. Eine starke Böe von vorn und meine Mütze segelte in hohem Bogen nach hinten weg. Noch bevor ich bewusst entscheiden konnte, was ich mache, stoppte ich instinktiv und musste 20-30m den Hügel hinauf zurücklaufen. Erstaunlicher- und glücklicherweise öffnete sich das enge Feld der Läufer und ich konnte mich recht schnell wieder auf den Weg nach vorn machen. Meiner Stimmung war diese kleine Episode selbstredend nicht besonders zuträglich.
In dieser frühen Phase ging es durch recht unscheinbare Stadteile und es verirrten sich nur wenige Sonntagsspaziergänger an die Strecke. Kurz nach dem Malheur mit der Mütze kam auch schon die 5km Marke. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte, dass ich komplett im Soll liege. Es wollte sich trotzdem weiterhin kein echter Rhythmus einstellen. Es war ein zäher Kampf durch das geschlossene Feld. Nun kamen auch die ersten Verpflegungsstellen, die zu weiterem Chaos führten. Es scheint, dass die Läuferetikette in Großbritannien nicht existiert. Es wurde geschubst, gebremst und wild hin- und hergelaufen. Meine Stimmung sank auf den Tiefpunkt.
Zumindest der zweite Zwischenzeitcheck bei Kilometer 10 (35:30) zeigte, dass ich punktgenau auf Kurs lag. Beim Versuch das erste meiner Gels zu mir zu nehmen, der nächste Dämpfer. Ich hatte bei der Aktion mit der Mütze eines meiner Gels verloren. Zum Glück nehme ich immer ein extra Gel mit, sodass es kein großes Problem war. Aufgrund des recht entspannten Tempos war die Einnahme kein großes Problem. Nun nahm ich auch das erste Mal Wasser an, dass man in London in kleinen (200ml) Flaschen anreicht. Das empfand ich als deutlich angenehmer als die verzweifelten Versuche sich den Inhalt eines Bechers in den Mund und nicht auf das Singlet zu schütten.
Nun wurde die Szenerie langsam etwas spannender. Es ging zum Cutty Sark, der mir schon zuvor als erster „Stimmungs-Hotspot“ angepriesen wurde. Hier geht es in einer 180 Grad Kurve um ein altes Segelschiff herum. Man hatte nicht zu viel versprochen, hier war es wirklich laut und die Zuschauer standen dicht gedrängt. Ebenso eng ging es weiterhin auf der Strecke zu, noch immer kämpfte ich mich durch das Feld. Hier begann dann langsam das Problem, dass der Geschwindigkeitsunterschied nicht mehr so groß war, dass man einfach vorbeiflog, sondern immer öfter blieb ich in Gruppen hängen und verringerte unmerklich etwas meine Pace.
So schaute ich bei Kilometer 15 ungläubig auf meine Uhr, die mir 18:04 für die letzten 5km anzeigte. Fast 20s zu langsam. Wie konnte das sein? Ich hatte mich gut gefühlt. War die Form doch nicht da? Hatte ich einfach einen schlechten Tag? Wahrscheinlich war ich einfach mal dran, einen Marathon nicht wie geplant ins Ziel zu bringen. Meine Gedanken überschlugen sich. Komplett unnötig schrieb ich hier schon mein Sub2:30 Ziel ab und begann mich selbst zu bemitleiden. Nun begann auch noch die Hüfte zu schmerzen, was mich in Chicago auf den letzten 10km schon ereilt hatte. Es war einfach zu viel! Ich begann schon ernsthaft darüber nachzudenken, ob ich überhaupt durchlaufen sollte oder könnte. Einfach ein gebrauchter Tag.
Ein weiterer kurzer Blick auf die Uhr zeigte mir, dass zumindest der Puls in einem absurd tiefen Bereich lag. Unter 150, fast 10 Schläge niedriger als üblicherweise zu diesem Zeitpunkt. Hatte ich mich vielleicht einfach etwas zu sehr ausbremsen lassen? Ich gewann wieder etwas Hoffnung. Auch das geschlossene Feld der Läufer brach nun etwas auf und ich konnte mich etwas freier von Gruppe zu Gruppe nach vorn arbeiten.
Bei Kilometer 20 stand das nächste Highlight auf dem Programm, die Überquerung der Tower Bridge. Auch hier waren die Menschmassen am Rand einfach unglaublich, ein ohrenbetäubender Lärm trieb uns über die Themse. Ich nahm mein zweites Gel, dieses Mal eines mit Koffein und kam am Tower of London vorbei zur Halbmarathonmarke. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte eine 1:15:11, ich war wieder näher an mein Ziel herangerückt. Ich war erstaunt, nahm es zufrieden zur Kenntnis. So langsam war ich nun im Rennen drin, die negativen Gedanken traten in den Hintergrund.
Ich holte die erste Frau des Nicht-Elite-Feldes ein und wurde in der Gruppe, die sie umgab, mal wieder unsanft ausgebremst. Zwei Läufer zuckten heraus, nahmen dann Tempo weg, jetzt war meine Geduld endgültig am Ende. Ich gab dem Läufer unmissverständlich zu verstehen, was ich von dieser Aktion hielt, worauf er mit einem Schulterzucken und der sarkastischen Aufforderung ich solle doch einfach vorbeilaufen, wenn ich mich so stark fühle, reagierte.
„Kannst du haben“ dachte ich mir trotzig, ließ mich ein Stück zurückfallen, befreite mich aus der Gruppe und ging nach vorne raus. Es ist erstaunlich, wie es manchmal kleine, unbedeutende Momente sein können, die einen mental auf Kurs bringen. Von diesem Moment an war ich 100% im Rennen angekommen. Kein Selbstmitleid mehr, die Schmerzen in der Hüfte nur noch eine Randnotiz, keine Gedanken an Zeiten, an Scheitern oder ähnliches. Ich war auf einer Mission.
Die nächsten Kilometer waren die schnellsten meines Marathons, wie ich im Nachhinein feststellte. Bei Kilometer 25 war ich wieder bis auf 3s dran an der Marschtabelle für eine 2:30. Wir waren nun im Stadtteil Canary Wharf, wo der Wind zwischen den Hochhäusern ganz ordentlich pfiff. Gruppe um Gruppe, Läufer um Läufer konnte ich ein- und überholen. Auch das dritte Gel nahm ich wie geplant zu mir. Es machte jetzt richtig Spaß. So hatte ich mir das vorgestellt.
Zumindest bis zu dem Moment, wo ich in einer bergab Passage auf einmal Ausfallerscheinungen in der rechten Gesäß-/Hüftmuskulatur spürte. Mist! Also um ehrlich zu seien, waren die Worte, die mir durch den Kopf gingen, deutlich weniger zitierfähig. Es waren noch mehr als 15 Kilometer und diese Probleme ließen sich jetzt nicht mehr ignorieren. Ich versuchte die Lauftechnik leicht zu variieren und minimal vom Gas zu gehen, um es erträglich zu gestalten.
Hier waren die Zuschauer leider wieder etwas rarer und so mussten die innere Stimme und die von vorn zurückfallenden Läufer als Motivation ausreichen. Es war jetzt ein Kampf, aber zu diesem Zeitpunkt im Rennen kommt das ja nicht überraschend. Ich rede mir ein, dass ich genau für diese schmerzhaften Kilometer hierhergekommen bin. Embrace the pain!
Kilometer 30 kommt und mit 17:48 bin ich wieder etwas langsamer geworden. Aufgrund der Umstände nehme ich das einfach emotionslos hin. Ich laufe alles was geht, die Zeiten und Paces sind nur noch Randnotizen, ich ziehe meine Motivation aus den anderen Läufern, an denen ich nun gefühlt immer schneller vorbeifliege.
Wir kommen zurück Richtung Zentrum, die Zuschauer werden wieder mehr. Das letzte Gel lasse ich in der Tasche, ich bin über den Punkt, an dem ich Nahrung zu mir nehmen kann, hinweg. Es geht nun fast schnurgerade entlang der Themse in Richtung Ziel. Eine breite Straße, nur noch versprengte einzelne Läufer, kleine Gruppe, alle leiden. Meine Gedanken sind nun komplett singulär: LAUF! PUSH!
Trotz der Ermüdung in Körper und Kopf spüre ich das Publikum, es ist einfach phänomenal. Ich lasse nicht nach, Schritt um Schritt komme ich dem Ziel näher. Ich komme zu dem Streckenabschnitt, den ich von meinem Shake-out Run kenne, es ist nicht mehr weit. Das London Eye taucht neben mir auf, ich sehe den Big Ben in der Ferne. Ich habe jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren, der Körper funktioniert einfach nur noch.
Kilometer 40, ich sehe die Zeit auf der Uhr, es verbleiben noch 7:55 Minuten um unter der 2:30 zu bleiben. Ich versuche kurz zu rechnen. Egal, es nützt nichts, alles raushauen was geht.
Jede Faser meines Körpers schreit nun: AUFHÖREN! Die Schmerzen in der Hüfte lassen mein Gesicht zur Grimasse werden: WEITER! WEITER! DURCHZIEHEN! Ich fliege an Läufern vorbei, denen es wohl deutlich schlechter geht. Viele machen freundlich Platz. Die Zuschauer machen Lärm, treiben mich an. Ein großes Schild mitten auf der Straße kündigt die letzten 600m an, ich habe noch reichlich 2 Minuten Zeit.
Der Buckingham Palace taucht vor mir auf, wie in einer Trance laufe ich um die letzte Kurve, sehe das Ziel. Irgendwie schaffe ich es tatsächlich das Tempo nochmal anzuziehen und fliege über die Ziellinie: GESCHAFFT!
Der Blick geht nach unten auf die Uhr, die ich erst jetzt stoppe. Sie zeigt 2:29:58, eine absolute Punktlandung!
Ich bin leer, mental wie körperlich habe ich alles gegeben. 5 Minuten kämpfe ich im Ziel an einen Zaun gelehnt damit, den Mageninhalt in mir zu behalten. Die Beine sind komplett kaputt und steif. Ich frage mich, wie ich damit noch kurz zuvor so schnell laufen konnte.
Ich hole mir meine Medaille, ich kann wieder lachen. Ich bin begeistert, wie perfekt meine Taktik aufgegangen ist. Selbst eine neue PB wäre heute wohl möglich gewesen, die Renneinteilung war perfekt. Während ich das vor dem Rennen durchaus erwartet hatte, so unerwartet kam diese Zeit dann doch, nach den Problemen, Missgeschicken und negativen Gedanken auf den ersten 15km. Ich hatte alles gegeben, niemals aufgesteckt und war am Ende dafür belohnt worden.
Etwas schade war, dass ich allein in London war und somit den Erfolg nicht mit meiner Familie oder Freunden teilen konnte. Dafür wurde ich auf dem Weg zum Hotel von fast jedem Passanten beglückwünscht. Ein Schulterklopfer hier, anerkennende Worte da, ein junger Mann möchte sogar ein Selfie mit mir machen.
Auch mit etwas Abstand und beim schreiben dieser Zeilen kann ich noch immer nicht ganz fassen, was an diesem Tag passiert ist.
Hier noch die nüchternen Zahlen:
Offizielle Zeit: 2:29:52
HM-Splits: 1:15:11 – 1:14:41
5k Splits: 17:38 - 17:52 - 18:04 - 17:48 - 17:26 - 17:48 - 17:45 - 17:44 - 7:47
Platzierung:
Gesamt: 178 / 53.832
M40: 18 / 4736