Theoretisch hätte das heute Tempoarbeit sein sollen. Aber ich fahre nicht 600 km nach Hamburg, nur um mich mitten im Industrie- und Hafengebiet mit Intervallen plattzukloppen. Wir waren gestern erst am Nachmittag losgekommen, also bis in die Dunkelheit gefahren. Statt wie geplant irgendwo auf der Hälfte nahe Kassel zu übernachten, sind wir durchgebrettert bis ins Herz der Lüneburger Heide. Unseren verborgenen Leib- und Magen-Stellplatz findet das WoMo im Schlaf. Hingehauen, eingepennt. Morgens früh die nur noch 50 km bis zum "Wohnmobilhafen" in Hamburg Hammerbrook reichen gerade zum Wachwerden. Ein grausiges Fleckchen Erde - unansehnlich, zwischen lauten Straßen eingekeilt. Und oben drüber (!) fährt die S-Bahn. Wenn man sich mal daran gewöhnt hat, kann man dem auch etwas Gutes abgewinnen, denn dieselbe S-Bahn, nach 200m Fußweg erreicht, trägt uns noch vor Mittag in nur 3 min. zum Hauptbahnhof. Schön Städtle kucken, moderates Shopping (eine sparsame Schwäbin und die Mönckeberstraße sind halt doch zwei verschiedene Welten). An prominenter Stelle schön Fisch gegessen, wirklich gut und gar nicht mal sooo teuer. Nachmittags zurück zum WoMo. Frau Rennkartoffel deutet an, dass sie jetzt einen Liegestuhl vertragen könnte. Mein Stichwort - ich flechte zwanglos ein, dass ich heute noch laufen will. Kein Widerstand. Ich deute an, dass es länger werden könnte. Kein Widerstand. Ich packe eilfertig den Liegestuhl aus der Heckgarage, rücke ihn sorgfältig zurecht, sorge für Getränke, frage sonstige Wünsche ab - alles fein, ich habe freie Bahn.
Inzwischen geht es auf 17:30 Uhr zu. Ich fahre nochmal zum Hauptbahnhof und schon geht's los. Es sind noch 29°C, sehr trocken und ein frischer Wind macht die Sache sehr erträglich. Ich schlage mich durch in die Richtung, in der ich die Außenalster vermute, aber je länger das dauert, desto größer werden die Zweifel - soooo weit kann das doch nicht sein ? Ein Blick auf den winzig zusammengefalteten Gratisstadtplan klärt mich auf. Ich bin unmerklich so abgedriftet, dass ich komplett parallel zum Ufer nach Norden laufe. Also einmal links abgebogen. Über die Hauptstraße und endlich ab in den Park. Park ? Nach wenigen Metern endet der Spaß auf einer Insel mit Segelclubgelände. Also wieder zurück an die Hauptstraße. Muss ich mich doch tatsächlich auf einem engen Weg zwischen Myriaden von Fußgängern und Radfahrern hindurchquetschen, und das alles direkt an der stinkenden und lärmenden Hauptverkehrsstraße. Das also soll nun die berühmte Alsterrunde sein. In jedem Film mit Hamburg als Location joggen welche an der Alster, und das immer ganz entspannt in weiten Parks und ohne Radfahrer weit und breit.
Ängstlich trabe ich weiter, wie ein Hase immer auf der Hut. Fußgänger, die mit dem elektronischen Brett vorm Kopf wie ferngesteuert ihre Schneisen schlagen. Radfahrer, die sich mit dem Recht ausgestattet wähnen, auf der Fußgängerseite zu zweit nebeneinander her zu fahren, auch wenn es noch so eng wird. Ein feinsandiger (heute natürlich sehr trockener) Untergrund läßt mich nach einem Schritt vor gefühlt einen halben Schritt zurückrutschen. Auf die gepflasterte Fahrradspur traue ich mich aber nicht - einmal Hase, immer Hase.
Die Brücke am nördlichen Ende der Außenalster nutze ich für eine kurze Orientierungspause, die dann zu einer längeren Bewunderungspause wird - eine herrliche Aussicht auf die Alster mit Millionen von Segelbooten. Was da wohl alles passieren mag ? Aber mir kommt der beruhigende Spruch in den Sinn: "Wer in der Alster ertrinkt, ist nur zu blöd zum Aufstehen." Die werden das schon machen, auch ohne meine Hilfe, also weiter im Text.
Jetzt kommt tatsächlich der mir geläufige, etwas breitere Alsterpark. Die Radfahrer finden mehrheitlich die Straße außenrum attraktiver, so dass sich nur noch wenige von ihnen hier wiederfinden. Jetzt, wo ich nicht in jeder Sekunde um mein Leben fürchten muss, kommt tatsächlich ein Gefühl von Laufen auf. Viel zu schnell stehe ich am Fuße der Kennedybrücke. War das etwa alles ? Zwar ist die Alster noch nicht ganz umrundet, aber die Aussicht auf den Rest reizt mich plötzlich gar nicht mehr. Im Gegenteil, Plan B liegt schon im Hinterkopf bereit - ich will Planten un Blomen und die Wallanlagen auch noch mitnehmen ! Schlage mich also durch zum Dammtor und ab in den herrlichen Park. Was für ein Kontrastprogramm ! Keine Radfahrer, nur ruhesuchende Spaziergänger und ein paar einzelne einsame Jogger. Und alles so schön und abwechslungsreich gestaltet. Herrliche Wasserspiele, Teiche und jede Menge schöner, kreativer Bepflanzung. Ich lasse mich genüßlich nach Süden treiben, bis der Millerntordamm das schiere Vergnügen viel zu schnell stoppt. Die Hegoländer Allee runter. Hier, am Eingangstor nach St. Pauli parken Reisebusse, hinter der Frontscheibe Schilder wie "Airbus, Managergruppe XYZ". Na denn mal viel Spaß, die Herren !
Im Nu bin ich an den Landungsbrücken, überstehe die hässliche Baustelle bis zur Überseebrücke und tauche ein in die Speicherstadt. Wird ein wenig überschätzt, wenn man sich nicht gerade in die Gebäude mit ihren Museen etc. begibt. Was jetzt natürlich nicht ansteht. Vielleicht nervt aber das Kopfsteinpflaster einfach nur meine inzwischen doch schon etwas müden Füße. Wie auch immer, ich laufe zügig durch und erreiche das Überseequartier, welches auf Teilen des ehemaligen Hamburger Hafengebietes entsteht. Obwohl ich eigentlich ein Fan von alten Städtchen mit Fachwerkhäusern bin, finde ich die bunte Vielfalt der modernen Architektur und vor allem die belebten Plätze und Straßenquartiere sehr anziehend. Für Leute, die an der Stadt wohnen mögen (hab's ganz früher mal probiert - ich kann es nicht, ich brauche die Ruhe auf dem Land) sicher eine hochattraktive Lage. Vorausgesetzt, dass monatlich ein paar Mark fuffzich aufs Konto fließen.
Da ich nicht genau weiß, wie ich von hier wieder zum WoMo komme (und da ich jetzt auch richtig fertig bin), steige ich in die U-Bahn und ab gehts.
Insgesamt 13,6 km.