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von todmirror
An der Laufstrecke angekommen, war ich ziemlich eingeschüchtert. Da liefen jede Menge Menschen rum, die alle wahnsinnig drahtig, sportlich und selbstbewusst daherkamen. Schnell kam ich aber mit ein paar anderen Läufern ins Gespräch. Das war richtig nett. Ich stellt meinen Klappstuhl auf der Startgerade auf, wie das die anderen Einzelläufer auch so machten. Von einem Mitläufer hörte ich, dass die Startnummernausgabe schon begonnen hätte und so ging ich in das entsprechende Festzelt. Da die offzielle Ausgabe der Unterlagen erst eine halbe Stunde später beginnen sollte, war dort außer dem netten Helfer niemand. Er begrüßte mich mit einem "Guten Morgen, Du bist Einzelläufer, oder?" Ich war zu diesem Zeitpunkt gerade in einer eingeschüchterten Stimmung, die mich eher ein "Guten Morgen, was willst Du denn hier? Schick Deinen Staffel-Kapitän!" erwarten ließ und so war das Balsam für mein Selbstbewußtsein.
Es war ja noch viel Zeit bis zum Start um 12 Uhr und so lungerte ich immer mal wieder auf meinem Campingstuhl herum und beobachtete das Treiben um mich herum. Neben den 135 gemeldeten Einzelstartern waren ja auch ca 70 Staffeln am Start. Irgendwann stellte jemand seinen Stuhl und einen Campingtisch neben den meinigen und baute eine beeindruckende Eigenverpflegung auf (obwohl die offizielle Verpflegung fantastisch gut war). Seite mitangereiste Frau wurde exakt eingewiesen, was er wann gereicht zu bekommen wünschte. Ca. eine Stunde vor dem Start wurden die Drehverschlüsse der aufgebauten Batterie von Flaschen vorsichtshalber schon einmal geöffnet. Mir erschien das wahnsinnig aufgeregt und ich dachte still bei mir: Der ist bestimmt (auch) zum ersten Mal hier und will nun all das umsetzen, was er so gelernt hat. Erst am nächsten Morgen begriff ich, dass ich den Männer-Sieger vom Vorjahr und Gesamtsieger dieses Jahres vor mir hatte. Er müsste über 200km zusammengelaufen sein. Respekt! Klasse Leistung. Auch mit seiner Frau kam ich ins Gespräch. Die beiden waren richtig nette Leute.
Es dauerte nicht lange, da erschien auch Alcx auf der Strecke (sein Auto landete genau neben dem meinigen und war daher dann später auch genauso eingeparkt wie meines). @Alcx Es war richtig schön, Dich kennenzulernen! Ich freue mich schon auf ein Wiedersehen in Berlin. Gegen kurz nach 11 tauchte dann auch mein Bruder auf. Was für ein schönes Wiedersehen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit standen wir dann um 12 Uhr tatsächlich am Start zu meinem ersten 24h-Lauf. Die ersten Runden verflogen im Nu, obwohl ich wirklich ganz gut in der Lage war, mich zu bremsen und einigermaßen langsam im Bereich zwischen 6:15min/km und 6:40min/km zu laufen. Damit lief ich entspannt in der ersten Hälfte des Feldes mit. Ich hatte mir vorher vorgenommen, jede zehnte Runde zu gehen in der Hoffnung, so die Muskelermüdung hinauszuzögern. Und tatsächlich bin ich dann die zehnte Runde auch tatsächlich größtenteils gegangen. So ging der erste Teil des Rennens wirklich gut. Irgendwann überrundete ich meinen Bruder und irgendwann überrundete mich Alcx. Die entspannte Begeisterung hielt aber leider nicht allzulange an. Spätestens ab KM 20 empfand ich die ganze Geschichte als viel zu beschwerlich dafür, dass ich erst 20km nicht allzu schnell gelaufen war und auch immer noch mehr als 21h Wettkampf vor mir lagen. Nach 25km hatte ich überhaupt keine Lust mehr und dachte darüber nach, wie ich die Angelegenheit vielleicht ohne großes Aufhebens würde zu einem halbwegs anständigen Ende bringen können (wenn ich heute 20km laufe und morgen auch noch mal, dann sind das ja fast ein Marathon, etc.). Zu diesem Zeitpunkt traf ich mal wieder auf meinen Bruder. Auch ihm ging es nicht wirklich gut - und wie er mir später berichtete, war kurz vor dem Aufgeben. Ich habe mich dann ihm für einige Zeit angeschlossen und wir sind in jeder Runde einen Teil gegangen und einen Teil gelaufen. Alcx, der ja viel schneller als wir unterwegs war, verkündete irgendwann, er werde sich jetzt mal ein bisschen aufs Ohr legen. Irgendwann tauchte er wieder auf und flog nur so in einem Affenzahn am gesamten Feld vorbei, dass ihm alle mit offenen Mündern hinterherstarrten. Mir gegenüber pries er dieses Vorgehen als DAS Wundermittel schlechthin an und sagte, nach so einer Pause sei alles wieder gut. Ich weiß gar nicht mehr genau wie es kam, aber irgendwann hatte auch ich nach ca. 5 1/2 Stunden die Marathon-Distanz hinter mich gebracht (ich weiß bis jetzt nicht, warum das so lange gedauert hat und trotzdem so anstrengend war) und nach 44km wollte ich eigentlich aufhören. Mein Bruder und Alcx fanden das wohl eher blöd und so erklärte ich, ich wolle wie Alcx erst einmal eine Pause in meinem Autolager machen und dann könne ich ja immer noch ins Hotel fahren. Gesagt getan: Für 45min habe ich mich mit Musik ins Auto gelegt und dann anschließend die Schuhe gewechselt. Tatsächlich ging es danach dann für ein paar Runden deutlich besser und ich bin ein paar schnelle Runden gelaufen (natürlich nicht so schnell wie Alcx). Als es wieder schwieriger wurde, habe ich mich wieder meinem Bruder angeschlossen, der nach meiner Pause 4 Runden Vorsprung hatte, von denen ich ihm eine schon wieder abgeknöpft hatte. Nach vielen weiteren zähen Runden war dann klar, dass mit Vollendung der nächsten Runde die 60km bei mir voll sein würden und ich beschloss für ein paar Stunden Schlaf ins Hotel zu gehen. Wenn ich am nächsten Morgen früh zurück an die Strecke kommen würde, könnte ich die 80km immer noch gut schaffen und ggf. sogar mehr. Zu meinem Hotel musste ich ca. 300m vor der Ziellinie abbiegen und so begann ich vor der letzten Runde ein paar Sachen für den Rucksack, den ich mit ins Hotel nehmen würde, zusammenzupacken. Ab diesem Moment begann mein linkes Knie zu schmerzen. Auf dem Weg ins Hotel und über Nacht wurde es leider nicht besser sondern eher schlimmer.
Morgens um 5 Uhr habe ich einen Testmarsch durch mein Hotelzimmer gemacht. Es fühlte sich nicht nach Laufen an. Also habe ich mich noch einmal hingelegt und die Entscheidung zunächst vertagt. Um kurz nach sieben habe ich dann die Segel gestrichen, weil ich hoffe, dass ohne ein Weiterlaufen das Knie in 1er Woche wieder ok ist und befürchtete, dass ein Weiterquälen die Berlin-Vorbereitung gefährden könne. Gegen 8.30 Uhr bin ich zurück zur Strecke gehumpelt, um die anderen Wettkämpfer bei ihren großartigen Leistungen anzufeuern. Mein Bruder war schon ziemlich am Ende, aber es fehlten ihm auch nur noch 4 Runden bis zum Erreichen seines 120km-Ziels. Diese Runden bin ich dann gemeinsam mit ihm geschlichen. Da ich meinen Chip noch im Rucksack hatte, sind diese Runden (aber das ja vermutlich auch ok, ich war ja offiziell noch im Rennen) für mich noch gezählt worden. Am Ende wurden es so 63,x km.
Sportlich bin ich damit nicht so sonderlich zufrieden. Dennoch war das definitiv eines der tollsten Sportwochenenden meines Lebens. Die Atmosphäre war unglaublich. Die Art und Weise, wie sich die Ultras untereinander helfen und sich in Momenten der Schwäche gegenseitig aufbauen ist großartig. DAS ist für mich wahrer Sport.
Gestern Abend habe ich in der ersten Unzufriedenheit gesagt, aus mir werde wohl kein richtiger Ultra werden. Heute morgen war ich immerhin unsicher. Ich habe weiterhin das Gefühl, dass diese ganz langen Sachen nicht unbedingt meine Stärke sind und habe auch mit den vielen Gehpausen so meine emotionalen Probleme (dieses Jahr war das nur deswegen so nett, weil ich ausgiebig Zeit hatte, mit meinem Bruder zu reden). Andererseits fand ich die Stimmung während dieses Wochenendes unglaublich toll. Ich habe mich im Kreis dieser Verrückten zu Hause gefühlt. Es waren sehr viele Momente dabei, in denen ich uneingeschränkt glücklich und zufrieden war. Auf der vorletzten oder letzten Spazierrunde mit meinem Bruder habe daher dann plötzlich doch verkündet, ich könne mir schon vorstellen, so etwas noch einmal zu machen.
Heute um 12.15 Uhr stand genau ein Name auf der Teilnehmerliste für 2018 (inzwischen sind es weitere zwei).