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von Knips
Ein schöner Thread und ein Thema, über das ich in jüngster Zeit oft nachgedacht habe.
Ich war sechs Jahre, als wir umzogen auf eine Straße mit neu gebauten Reihenhäusern. Ich musste nur auf die Straße gehen, um mehrere Spielkameraden zu haben. Die Straße als Sackgasse war kaum befahren, und an ihrem Ende gab es eine Obstwiese und zwei große freie Flächen. Wir habe uns fast den ganzen Tag draußen aufgehalten, Fahrrad gefahren, Verstecken und Nachlaufen gespielt und bis zur Bewußtlosigkeit Fußball gebolzt. Der Bruder eines Spielkameraden, um etliches älter, hat auch Sportfeste organisiert - Laufen, Springen, Werfen - die wir begeistert mitmachten. Ich habe alles gerne gemacht, war in einigen Bereichen gut, in anderen mittelmäßig - man beginnt ja bereits früh, sich mit anderen zu vergleichen - aber nirgendwo war ich wirklich und unumstritten der Beste von allen. Dann kam der Tag, als für uns Knirpse im Rahmen eines solchen Sportfestes 1000 m Gehen angesagt war. Wir sind die Straße 3x auf und 2x ab gegangen, manche haben unterwegs aufgegeben, und am Ende hatte ich haushoch gewonnen. Irgend etwas hat anscheinend in meinem Kopf "klick" gemacht, denn ab da stand für mich fest, was ich gut konnte und gerne machte, nämlich lange Strecken zu bewältigen.
Später habe ich selbst Sportfeste für meine Spielkameraden und deren jüngere Geschwister organisiert, und der Höhepunkt war immer ein circa 2km langer Lauf von unserer Straße aus über eine Eisenbahnbrücke, gegenüber unserer Straße auf einem Feldweg parallel zu den Gleisen bis zur nächsten Eisenbahnbrücke und wieder zurück. So sehr ich mich in all den anderen Disziplinen auch vorbereitete und anstrengte, ich wurde nie erster, aber hier, über 2km, konnte ich immer mit riesigem Vorsprung gewinnen.
Noch später bin ich längere Strecken angegangen, allein, weil keiner meiner Freunde mitlaufen wollte. Es waren maximal 12 km, aber damals war das für mich viel, da ich über die Stadtgrenze hinaus lief, um in einem großen Bogen wieder zurück zu kommen.
Als 15 oder 16 jähriger lief ich eines Abends auf der Laufbahn meines Sportvereins 10 km, einfach so aus Spaß und in wechselndem Tempo. Mir bereitete es Vergnügen, mich an eine Gruppe erwachsener Läufer , die auch zahlreich ihre Runden drehten, heranzuarbeiten, ein bißchen in ihrem Windschatten auszuruhen, um dann die nächste Gruppe ins Visier zu nehmen. Nach dem Lauf sprach mich einer der wirklich guten Läufer an. Er hatte mich beobachtet und war bereit, mich zu trainieren. Wir machten das auch einige Male, bevor mich meine Eltern ob der knapp gewordenen Freizeit vor die Wahl stellten, neben dem Gitarrenunterricht (den ich eigentlich gern aufgegeben hätte) mich entweder fürs Schachspielen, das ich vor kurzem vereinsmäßig angefangen hatte, oder fürs Laufen zu entscheiden, aber nicht beides.
Ich habe mich damals für das Schachspielen entschieden, und dieses Spiel hat mir im Laufe meiner aktiven Zeit (bis 1994) viel zurückgegeben. Ich habe dabei Erfolge erreicht, die ich vorher nicht erwartet hatte. Ich jann mich also nicht beschweren. Trotzdem hadere ich zurückblickend mit meiner Entscheidung und auch mit dem Ultimatum meiner Eltern, denn es speiste sich nicht aus Sorgen wegen schulischer Leistungen oder wegen schlechten Umgangs. Ich glaube, man ärgert sich später nicht so sehr über Dinge, die man getan hat, sondern über solche, die man unterlassen hat wie in meinem Fall weiter zu laufen.
Mit 27 Jahren, nach dem Studium, bin ich noch zur Bundeswehr eingezogen worden. Kurz danach stand ein 2km Lauf auf dem Programm. Wir wurden in zwei Gruppen eingeteilt, und in meiner Gruppe rannte ich ohne Training all den jungen Spunden davon. In der anderen Gruppe war der erste, von zwei Verfolgern getrieben, 1 Sekunde schneller. Wer weiß, wie es im direkten Vergleich ausgegangen wäre. Hier beim Barras entdeckte ich das Langstreckenlaufen wieder. Den obligatorischen 5000m Lauf beendete ich als erster meiner Gruppe, und bei den Herbstlaufmeisterschaften der Kaserne wurde ich ebenfalls erster über circa 6km Waldstrecke, allerdings in Altersklasse 2, was mir einen Tag Sonderurlaub als Siegespreis einbrachte.
Ironischerweise konnte ich das im Schach noch toppen, denn nach Gewinn der regionalen Ausscheidungskämpfe bekam ich eine Woche frei für die deutsche Bundeswehrmeisterschaft, für die ich mich dadurch qualifiziert hatte.
Ich fühlte mich also wieder jung und stark und meldete mich für einen örtlichen 15 km Herbstlauf auf profilierter Strecke an. 5 km, 15 km, wo ist der Unterschied, fragte ich mich. Die Ernüchterung kam beim ersten, langen Anstieg, bei dem ich gnadenlos nach hinten durchgereicht wurde. Erster Anfängerfehler: zu hohes Anfangstempo. Anschließend mußte ich immer wieder Gehpausen einlegen. Zweiter Anfängerfehler: nicht genügend trainiert für die Strecke. Ich quälte mich regelrecht ins Ziel, und nach dem Lauf war ich ziemlich ernüchtert. Als ich aus der Bundeswehr entlassen wurde, habe ich auch das regelmäßige Laufen eingestellt, noch an zwei, drei Volksläufen mit sehr mäßigem Erfolg teilgenommen und dann ganz aufgehört.
Aber wenn der Virus erst einmal in einem steckt ... Im Sommer 1991 besuchte ich meine Schwester in ihrer WG. Draußen huschten Kolonnen von startnummernbewehrten Läufern vorbei; es war der Bonner Post-Marathon. Das interessierte und faszinierte mich. Am meisten imponiert hatte mir dabei eine Läuferin, die bei einbrechender Dämmerung - der Besenwagen war schon vorbei - an meinem Beobachtungsposten unbeirrt Richtung Ziel vorbei schlich. Dieser Lauf war eine Motivationsinjektion erster Klasse. Ich begann wieder zu laufen. Erst 5 km einmal die Woche, dann etwas mehr. Ich erzählte zwei Freunden meines Schachklubs davon, und an diesem Septemberabend, bei einer Pizza und einem Glas Rotwein, schlug der eine dem anderen eine Wette vor, nämlich wer als erster ankäme nächstes Jahr beim Bonner Marathon. Natürlich war ich mit von der Partie. Das Training wurde intensiver. Wir trafen uns z.B. jeden Sonntag regelmäßig zu unserem langen Lauf, der aber jedes Mal zu einem Wettlauf ausartete. Wir nahmen an mehreren Volksläufen teil, ja, und im Juni 1992 war es so weit: mein erster Marathon.
Ich habe den Lauf noch lebhaft in Erinnerung. Meine beiden Lauffreunde hatten sich weiter vorne aufgestellt, aber nach 10 km hatte ich einen erreicht. Den zweiten holte ich kurz vor dem Haus meiner Schwester ein, aus dem ich im Jahr zuvor noch die Läufer beobachtet hatte. Der Kurs war zwei Mal zu durchlaufen, und nach der ersten Runde fühlte ich mich phantastisch. Doch nach und nach versiegten meine Kräfte, und ab Kilometer 30 wurde es richtig hart, wie in diversen Lehrbüchern beschrieben. Ich habe es trotzdem ohne Gehpausen geschafft, und war im Ziel überglücklich.
Dieses Jahr war mein persönliches Anus Mirabilis, denn ich trainierte konzentriert weiter, und im Herbst stellte ich auf verschiedenen Strecken persönliche Bestzeiten auf, die bis heute für mich bestehen. Leider beging ich in meiner Laufeuphorie einen weiteren typischen Anfängerfehler. Ich trainierte zu viel und zu schnell. Zum Jahreswechsel hatte ich starke Beschwerden beim Laufen, und auch meine Motivation sank rapide. Ich hörte auf.
Danach habe ich immer wieder ein halbes Jahr oder länger trainiert, um dann wieder aufzuhören - meist im Winter. Jetzt wird auch klar, woher das "Quartalsläufer" in meinem Profil kommt. Eine Ausnahme war 1997, als ich es noch einmal wissen wollte und mich für den Köln-Marathon anmeldete. Ich erreichte fast wieder die alte Form, und meine Marathonzeit konnte ich sogar um mehr als 10 Minuten drücken. Aber in der Zwischenzeit wurde mein Sohn geboren, und in der Familie waren die Prioritäten nun so gesetzt, dass für das Laufen wenig und nur unregelmäßig Zeit blieb. Nach der Geburt meiner Tochter im Jahre 2000 habe ich das Laufen fast ganz aufgehört.
Liest noch jemand mit? Wenn ja, kommt jetzt noch ein positiv stimmendes Kapitel, denn so niedergedrückt kann ich meinen persönlichen Bericht nicht beenden.
Ab 2001 lief ich nur noch genau zwei Mal im Jahr, weil eine Gruppe von Freunden zwei Laufveranstaltungen fest eingeplant hatte, bei denen ich nicht kneifen wollte. Und so lief ich regelmäßig im Oktober einen 10 km Volkslauf direkt vor meiner Haustür, was konditionsmäßig noch ging, und den Halbmarathon in Heidelberg mit seinen 360 Höhenmetern, was mich natürlich jedes Mal fix und fertig machte. Also beendete ich diesen Unsinn dieses Jahr im März, als ich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder meinen Rucksack zum Training schnürte. Seitdem bin ich wieder dabei, eisern drei Mal die Woche, habe wieder Spaß am Laufen, habe nach Heidelberg am nächsten Tag wieder Treppen auf- und abgehen können, habe wieder seelisches Gleichgewicht und innere Ausgeglichenheit, habe abgenommen, und bin als Nebeneffekt die Kopfschmerzen los, die mich in den letzten Jahren fast täglich gequält hatten.
Fazit, es ist ganz einfach, mit dem Laufen anzufangen. Ich habe es bereits etwa zehn Mal geschafft.
Vielen Dank an die, welche diesen überlangen Bericht zu Ende gelesen haben. Wie ich oben sagte, beschäftigte mich dieses Thema schon eine geraume Weile, und dieser Thread war der Auslöser, mir das alles von der Seele zu schreiben.
Ralf
langsam läuft am längsten