Kassel Marathon 2015
Das war es also, mein Debüt.
Oft habe ich gehört, der erste Marathon sei etwas Besonderes. Man könne es sogar genießen. Beides habe ich nicht so recht geglaubt.
Heute Abend kann ich dieses ganz Brimborium, das um die Distanz Marathon gemacht wird, verstehen. Es ist etwas Besonderes, und umso mehr, wenn man sich das erste Mal an diese Distanz wagt. Man ist über viele Kilometer in einem Leistungsbereich, in dem man nie zuvor war. Wie soll man das planen? Wie soll man das einschätzen? Ich habe mich damit furchtbar schwer getan.
Letztendlich ist das passiert, was mir oft in Wettkämpfen passiert: Ich überrasche mich selbst.
Der Wecker klingelt um 04:45 Uhr. Fiese Zeit. Um sechs Uhr will ich im Nachbarort sein, um meinen Schwager Julian und meinen Schwiegerpapa abzuholen. Julian hat mir den heutigen Start vor gut sechs Monaten als Geschenk unter den Weihnachtsbaum gelegt. Dafür habe ich Ihn in den letzten Wochen häufiger zum Teufel gewünscht. Mir fehlten jedoch die Ausreden, heute zuhause zu bleiben.
Also Aufstehen, Kaffee an, Ofen mit Aufbackbrötchen an, Topf mit Haferflocken und Banane an. Ich bin nervös. Der Magen nimmt das Frühstück trotzdem gut an. Eine Schale Haferschleim, ein Nutellabrötchen, zwei Kaffee. Damit alles auf Touren kommt. Weitere Brötchen kommen für die Fahrt in den Rucksack. Die Fahrt von Hildesheim nach Kassel verläuft gut. Die Straßen sind frei, die Stimmung positiv angespannt. Für Julian ist es bereits der vierte Marathon. Er kämpft jedoch mit einem muskulären Problem und ist erst vor wenigen Wochen in gut 4 Stunden in Bonn ins Ziel gelaufen.
Ankunft in Kassel. Startunterlagen abholen. Noch gut eine Stunde Warten. Meine Nervosität steigert sich ungemein. Mehrmals renne ich aufs Dixi und verbleibe dort auch einige Minuten. Immerhin ist das von Erfolg gekrönt. Dafür macht sich nach den Sitzungen wieder ein leichtes Hungergefühl breit. Mann, wann geht es hier endlich los?
Der Plan war weiterhin, mit 05:30 anzulaufen und jeden VP zu nutzen, wo es möglich ist. Ab HM Tempo prüfen und anpassen.
Im Startblock postieren wir uns mittig zwischen dem 04:00h-Ballon und dem 03:45h-Ballon. Passt! Sehr viele Staffelläufer am Start. Ich wundere mich, da ich mich mit der roten Marathoni-Startnummer fast exotisch fühle. Ich will endlich laufen.
Der Startschuss fällt. Geil, ich laufe Marathon!!
Die ersten Kilometer laufen Julian und ich gemeinsam und sind fast sekundengenau unterwegs. Die 05:30 laufen sich geschmeidig und angenehm. Bereits an den ersten Verpflegungsposten stoppen wir kurz für Iso und Bananenstücke. Mein Hungergefühl hat sich manifestiert. Außerdem könnte ich schon wieder aufs Dixi. Ist aber weit und breit keins in Sicht. So ein Ärger. Also zukneifen und weiterlaufen.
Bei km12 trennen wir uns. Sein Bein macht Probleme, er will nichts riskieren. Meine Beine fühlen sich gut an und legen an Tempo zu. Die nächsten VP’s überlaufe ich. Dann folgen vier relativ schnelle Kilometer, 16-19. Die gehen in 05:19 und besser durch. Aufkeimende Sorgen, dass sich das später rächen wird, verdränge ich. In der zweiten Hälfte versteckt sich noch der ein oder andere Höhenmeter.
Zwischendurch wieder ein Bananenstück und Wasser. Halbmarathonmarke überquere ich bei 01:55h.
Ab km25 wird es wie erwartet schwerer. Aber, toi toi toi, nur aus Sicht der Beine. Die Verdauung hat sich völlig beruhigt. Es wird nun auch mental zur Herausforderung. Ich habe noch 17km zu laufen. Den nächsten Meilenstein setze ich mir für km30.
Bei einem VP verursacht der Wechsel vom Laufen ins Gehen leichten Schwindel. Das Wiederanlaufen fällt schwer. Km30 lässt auf sich warten. Km28. Noch 14km. Ich versuche mit dem Tipp von D-Bus, mich abzulenken: Schrittezählen: 1-3-5-7-1-3-5-7-1-3-5-7. Noch einmal: 1-3-5-7-1-3-5-7-1-3-5-7-. Hilft.
Noch 12km. Der nächste Meilenstein ist km32. Von dort ist es nur noch ein Zehner. Der geht bekanntlich immer. Die Oberschenkel brennen. Ich vermeide Bordsteine, um Krämpfen entgegenzuwirken. Erstaunlicherweise wirkt sich dieser Kampf nicht wesentlich auf die Pace aus. Die bleibt stabil, mit deutlichen Werten unter 05:30.
Bei km35 stoppe ich noch einmal bei einem VP. Ich bin fix und alle. Banane mit Wasser. Leute glotzen, als das Wasser wieder aus dem Mund läuft. Ich lasse mir Zeit und gehe ein Stück. Das wird der langsamste km des Wettkampfs, mit 06:16. Ich kann nicht mehr. 7km gehen ist aber auch doof. Also weiter.
Es geht bergauf. Also, nicht stark. Aber es zieht noch die letzten Körner aus den Beinen. Km36. Ein paar Kinder abklatschen. Schrittezählen. Endlich ist der Berg geschafft. Jetzt geht es bis zum Ziel nur noch runter. Das passt wiederum den vorderen Oberschenkeln nicht. Muss drauf achten, die Schritte klein zu halten, das entlastet.
Ab und zu saust ein Staffelläufer an mir vorbei. Ich kassiere aber auch ein. Ein nettes Wechselspiel.
Km37. Der letzte Fünfer. Bis auf die Beine laufen alle Systeme ok. Solange ich nicht gehe, schwindelt auch nichts.
KM38. Jetzt weiß ich, dass ich ins Ziel komme. Immer wieder muss ich ein wenig Pace rausnehmen, kann dann aber wieder anziehen. Immer auf die Beine hören. Die Oberschenkel schreien.
Km40 ist erreicht. Jetzt noch einmal alles rausholen. Irgendwie, ich weiß wirklich nicht wie (muss wohl am Gefälle gelegen haben) geht die Pace noch einmal unter 05:20.
Das Auestadion ist in Sicht. Im Eingangsspalier und auf der Ehrenrunde im Stadion gehe ich noch einmal All-In. Da ist der Zielbogen! 03:50h !!! Ich habe auf den letzten Km tatsächlich nicht gerechnet und hatte nur auf die Pace geachtet.
Ich war völlig überrascht und überglücklich. Erstens, dass ich überhaupt durchgekommen bin. Zweitens, dass so eine schöne Zeit bei rausgekommen ist. Und drittens, dass ich über 10km richtig hart kämpfen konnte.
Im Ziel machen die Beine innerhalb weniger Minuten völlig dicht. Laktatflut. Ich stakse Richtung Bierstand, hole mir das wohlverdienteste Bier meines Lebens ab und verkrümel‘ mich in eine Ecke. Ich bin völlig überwältigt und muss mehrfach mit den Tränen kämpfen. Der Kloß im Hals lässt sich nicht runterschlucken. Ich genieße noch die Atmosphäre und beobachte die weiteren einlaufenden Läufer. Julian ist noch nicht in Sicht. Später berichtet er, ab km27 teilweise gegangen zu sein. Er wird bei 04:45h im Ziel sein.
Hier die Daten:
Nettozeit: 03:50:13
HM-Zeit: 01:55:18
Pace: 05:27
150Hm