Feuerwehrmann (Zeitreise in die Gegenwart)
Kapitel 3
…Eigentlich ist nämlich Einstein Schuld
Zeit ist ja wohl das Relativste, was es auf dieser Welt gibt. Dass schöne Dinge schneller vorbeigehen, als Ereignisse, die einem zuwider sind, ist ein alter Hut, aber wie kann es angehen, dass ich mich an Einzelheiten meiner Einschulung erinnern kann, als wäre sie erst heute gewesen, während mir partout nicht mehr einfallen will, welche Socken ich gestern getragen habe?
Einiges aus meiner Vergangenheit kommt mir viel näher vor als es tatsächlich ist. Das sind meist Dinge, die wirklich außergewöhnlich waren, bzw. von meinem Speichermanagement für außergewöhnlich befunden werden.
Kürzlich haben wir mit unserer Band unsere zweite CD aufgenommen. Wir waren uns einig, uns ein Studio außerhalb von Hamburg auszusuchen und für die Dauer der Aufnahmen Urlaub zu nehmen und dann auch dort irgendwo zu wohnen in dieser Zeit.
Wir wollten einfach den Kopf freihaben für uns und unsere Musik und nicht jeder abends nach Hause müssen um wahrscheinlich noch die Bude zu saugen oder Milch holen zu müssen oder noch Schlimmeres... Also die Rechnung ging mal voll auf!
Nach einiger Internetrecherche sind wir auf ein Studio in der Nähe von Düsseldorf gestoßen, wo man in einem „Apartment“ über dem Aufnahmeraum wohnen konnte. Ha, man konnte sogar über eine Wendeltreppe direkt von der Küche ins Studio hinunter. Ein Hammer!
Das „Apartment“ entpuppte sich zwar als umgebaute Garage, in der ein Sofa, eine Kochnische und ein kleiner Schlafraum mit zwei Etagenbetten sowie einem Feldbett untergebracht waren, aber hey, das war mal wirklich Rockermäßig. Endlich mal wie ein Profi sein.
Wir waren eine Woche dort und haben uns die ganze Zeit regelrecht gesuhlt in diesem Gefühl "Musiker" zu sein, dazuzugehören, den Status "Hobby" hinter sich gelassen zu haben.
Eine Woche lang wohnten wir zusammen und hatten nur mit dem Tontechniker zu tun. Wir haben uns mittags schon den ersten Whisky reingezogen, abends zusammen Nudelsuppe gekocht und nachts, zu fünft in einem Raum gepennt… Ok, das war weniger prickelnd....
Um dieses Gefühl, welches uns allen inne war wirklich zu verstehen, muss man mehr über die Band wissen, zu gegebener Zeit werde ich über diesen wichtigen Teil noch einiges sagen.
Wann war das doch gleich mit dieser CD? Warten Sie… letztes Jahr? Nee, vorletztes? Ah, ja genau, das war Oktober 2000 … VIER JAHRE?
Was um Himmels Willen ist denn dazwischen passiert? Die CD ist doch brandaktuell…
Das Ganze hätte gestern sein können. Fast jeden Tag könnte ich minuziös wiedergeben, weil es einfach ein Erlebnis war, welches die Bezeichnung auch verdient.
Wieso ist Zeit im Rückspiegel betrachtet so verdammt lange her?
Der Urlaub ist vorbei, man sitzt den ersten Tag wieder im Büro und es dauert nicht einmal eine Stunde, bis Das All-Inklusive Hotel in Ägypten schon wieder Jahrzehnte zurückliegt. Der nächste Urlaub ist noch ein Jahr lang weit weg. Ein ganzes Jahr! wie soll man die Zeit nur rumkriegen? Und schwupps…. Ist auch der Urlaub schon wieder Geschichte, quasi aus einem Land vor unserer Zeit… Und schwupps und schwupps und schwupps wird man zum Zeitreisenden, leider immer nur in eine Richtung, aber dafür zunehmend schneller.
Diese Erkenntnis lässt eigentlich nur einen Rückschluss zu, nämlich dass das Leben umso länger währt, je mehr darin passiert. Gut was? Man braucht nur ständig und immer was ganz, ganz Tolles zu machen und schon ist man nahezu unsterblich?
Das trifft im sprichwörtlichen Sinne auf Leonardo Da Vinci zu, vielleicht auch noch auf Frank Zappa, aber alles in allem hat die Sache einen entscheidenden Haken: Die Routine.
Routine ist toll bei Bypassoperationen, ich meine, keiner wünscht sich einen Arzt der vorm Bett steht und sagt : „Ach, das ist ihre erste Operation? Na machen sie sich nichts draus,meine auch, das kriegen wir schon hin...“
aber Lebensspannenmäßig betrachtet, ist Routine pures Gift.
Um auf dem Teppich zu bleiben stelle ich mir da auch immer gerne Leute vor, die in den Augen von uns „Normalen“ ihr Leben viel extremer leben. Ob nun ein Rot-Kreuz Helfer in Afrika, der aus Berufung -wenn auch weitgehend anonym- wirkt oder ein Rockstar, der wirklich all die gängigen Klischees bedient und ein „wildes“ Leben mit Sex, drug’s & Rock’n Roll führt. Ich könnte mir vorstellen, dass selbst ein Mick Jagger mitunter daran verzweifelt, dass ihm ganze Jahrzehnte abhanden gekommen sind, weil sein Leben für ihn einfach Routine ist… wobei... ok, bei Old Mick könnte das mit dem Vergessen auch noch farbenfrohere Gründe gehabt haben, aber die Gummimischungen, die der in seinem Leben geraucht hat, sind nicht Bestandteil meiner Theorien…
Weil man nun aber eben nicht ständig sein Leben mit aufregenden, neuen Kicks versehen kann, weil davor nun mal die zivilisationsbedingten Unannehmlichkeiten wie Miete, Kind und Kegel stehen, muss halt der Alltag dazu herhalten, etwas Besonderes zu sein. So der Plan…
Ich für meinen Teil sehe nämlich schon seit geraumer Zeit vermeintliche Banalitäten mit wacheren Augen. Die Motorradtagestour an die Mecklenburgische Seenplatte, der morgendliche Gang zur U-Bahn bei schönstem Sonnenschein, geblitzt werden ohne dass ein Strafmandat folgt… Ich konserviere so etwas in meinem Gedächtnis, damit nicht irgendwann schon wieder fünfunddreißig Jahre vorbei sind, ohne dass ich es bemerkt habe.
Tolle Idee oder?, klappt bloß nicht…
Zumindest nicht oft. Es macht aber auf jeden Fall Spaß und ist eine echte Aufgabe, zu versuchen völlig belanglose Dinge ins Langzeitgedächtnis zu bekommen.
Ständig bastle ich mir irgendwelche Eselsbrücken. Ich sehe irgendwas Tolles / Erschreckendes / Witziges und mit Hilfe irgendwelcher gedanklichen Hilfsmittel versuche ich das dann abzuspeichern. Hier mal am Beispiel der Zahl 412:
Ich weiß noch genau, dass ich mir mal irgendwas mit Hilfe der Zahl 412 merken wollte. Ich weiß nicht mehr was das war und auch nicht warum ausgerechnet die 412 die Eselsbrücke dazu sein sollte, aber im Leben werde ich mich immer an die 412 erinnern. Ist das nix? Ja, das ist nix, obwohl es stimmt. 412! Die Zahl meines Vertrauens. So ein Blödsinn, entschuldigen Sie aber manchmal.... habe auch ich es nicht leicht mit mir.
Allerdings gelangt hin und wieder eben doch etwas vermeintlich Banales in mein Langzeitgedächtnis.
Ironischer-weise meist unbeabsichtigt.
So ist es wirklich erstaunlich, dass ich zum Beispiel nur mit Hilfe des Wortes „Brustsalat“ einen kompletten Nachmittag wieder herbeizaubern kann, an dem ich mit meinem damaligen besten Freund Willy –wir müssen so Sechzehn gewesen sein- einen fürchterlichen Lachkrampf bekommen habe.
Ich kann die Szene wirklich wie in einem Film abspulen. Es ging eigentlich nur darum, einen möglichst coolen „BrotherHandshake“ zu entwickeln, also eine Begrüßung zwischen uns, mit so einem fürchterlich komplizierten "
Faust auf Faust, klatsch ab, yo man, whats up, Ding." Ganz individuell musste das sein und so haben wir uns in meinem Zimmer verbarrikadiert und stundenlang daran gefeilt. Das Ergebnis war ein Ritual, das nahezu 30 Sekunden dauerte und eine richtiggehende Choreographie von allem Möglichen Schnickschnack war, incl. zwischen den Beinen durchkrabbeln, um die eigene Achse drehen und „Heyah hey“ rufen. Das Ganze noch mit verbalen Verrenkungen garniert, in deren Verlauf irgendwie auch „Halt die Wurst“ und „Brustsalat“ gerufen wurde.
Ich habe keine Ahnung, was Sie daran komisch finden könnten, mein Vater, der damals im Nebenzimmer an seiner Buchhaltung saß und uns fassungslos zuhörte, ebenfalls nicht. (Hat er mir später erzählt und auch das habe ich nie vergessen)
Wir jedenfalls haben sprichwörtlich „Scheiße“ geschrien vor Lachen.
Tjaaaa, war das nun im Prinzip eine Banalität, oder eben zu dem Zeitpunkt doch etwas Besonderes? Wieso weiß ich das noch so genau? Warum konnte ich das irgendwo unter „
TOP WICHTIG, NICHT VERGESSEN“ abgelegen?
Wenn ich mich nur fünf Sekunden sammle um mir Fragmente aus meiner frühesten Kindheit ins Gedächtnis zu rufen, fallen mir recht spontan die verschiedensten Dinge ein; Nicht weil ich sie mal auf Fotos gesehen habe, oder mir die entsprechende Geschichte dazu oft erzählt wurde, sondern weil sie mir wirklich noch vor Augen stehen:
- Da wäre die Blindschleiche zu nennen, die wir auf einer Waldwanderung während einer Klassenreise in der vierten Klasse gesehen haben und die von Manuel per Stock in seine Feldflasche befördert wurde, aus der wir sie allerdings nicht mehr lebend herausbekommen haben…
- In meiner Schultüte zur Einschulung, war ein blauer Plastikfotoapparat der richtig funktionieren sollte, wie mir mein Onkel Alois (Der mit der RIESEN Nase) versprochen hatte, was er dann aber nie getan hat.
- Auf einem Dänemark Zeltlager, während meiner Kindergartenzeit gab es ein Aquarium, in das wir Krebse getan hatten, die wir mit Stock, Schnur und Fischköpfen aus der Ostsee gezogen hatten. Irgendein Scherzbold hat Milch in das Wasser geschüttet, so dass das Aquarium ganz Milchig weiß war.
Das Alles sehe ich noch mehr als deutlich vor mir.
Gut, dass das hier keine wissenschaftliche Abhandlung wird, sonst müsste ich noch eine Antwort darauf liefern.
Nichts desto trotz trifft dieses „Für immer abspeichern“ bei Dingen, die das Gehirn zumindest als wichtig einstuft, im selben Maße zu, wie das Meiste im Leben ziemlich schnell für immer im Nirvana der 90% nicht genutzten Gehirnmasse verloren geht.
Da kann mir noch so ein toller Professor erzählen, dass alles was man erlebt auch gespeichert und verarbeitet wird und von mir aus auch Charakterbildend sei, weg ist weg. Wenn man sein Leben jetzt aufschreiben müsste, Tag für Tag, wer würde da mehr als bestenfalls ein paar Tage zusammen bekommen?
Faszinierend und dieser These widersprechend ist dabei allerdings, was für einen Wirkungsgrad ein simples Tagebuch besitzt, wie z.B. meine Freundin eins in ihrer Schulzeit geführt hatte.
Die täglichen Ereignisse beschränkt auf wenige, stichwortartige Sätze. Wenn sie da heute reinschaut, kommen Dinge wieder an die Oberfläche, die schon lange, wirklich lange vergessen waren und zwar inklusive unglaublich vieler Details, die gar nicht aufgeschrieben worden waren:
Warum sie damals sauer auf ihre beste Freundin war (Hatte ihr Eis auf die Hose geschmiert ohne Entschuldigung zu sagen). „Hach, das musst du dir vorstellen Markus“ sagt sie dann „ich hatte mir gerade bei Jean Pascal diese irre gelbe Hose gekauft, die mit den Fransen an der Seite und da kommt diese blöde Kuh an, stolpert und haut mir das komplette Eis mit allen drei Kugeln –Schokolade, Zitrone und Melone- auf die Hose. Und dieses Krokantzeugs klebte auch überall…“
Was für ein Schatz ist das heute. Die Disziplin werde ich nie haben und auch Diana hat schon vor Jahren damit aufgehört. Jeder der in der Jugendzeit ein Tagebuch geführt hat, lässt das wohl durch Zeitmangel und Verschiebung der Schwerpunkte irgendwann einfach einschlafen.
Ich bleibe also dabei, ich werde weiterhin versuchen einfach bewusster zu leben und möchte das Ganze mit einer meiner rhetorisch/architektonisch fragwürdigen Metaphern zementieren:
Hin und wieder tut ein Arschtritt Not, der dafür sorgt, dass die Umlaufbahn des Alltags zumindest ein paar bleibende Dellen bekommt, an denen man sich hin und wieder zumindest vorübergehend festhalten kann.