Eine kurze Warnung vornweg, der Text ist deutlich länger geworden als geplant und beschreibt recht detailliert mein Innenleben am Marathon-Tag. Wer an der nüchternen Daten/Zahlen/Fakten-Analyse interessiert ist, muss sich noch ein paar Tage gedulden.
Nach dem Messebesuch gab es am Samstag noch eine Pizza, mehrere Tassen Tee und heiße Zitrone und dann ging es bereits vor 10 ins Bett. Zusammen mit der Zeitumstellung 9 Stunden Schlaf, die dem Körper nochmal die Möglichkeit gaben zu gesunden. Überraschenderweise konnte ich problemlos einschlafen und auch ziemlich gut durchschlafen. Als ich dann, pünktlich 8 Minuten vor dem Wecker, um 5:52 aufwachte, horchte ich sofort in mich hinein. Es fühlte sich ganz gut an, deutlich besser als am Samstagmorgen.
Dieses Hochgefühl ist kaum zu beschreiben, ich hatte plötzlich richtig Bock auf diesen Lauf. Ganz anders als vor 2 Wochen beim 10er passte der Fokus, ich war bis in die Haarspitzen motiviert. Wenn ich schon laufen kann, dann alles raushauen, was ich in mir habe. Nicht nur die letzten 4 harten Monate der Vorbereitung kamen mir ins Gedächtnis, auch der harte Weg zurück seit November 2017 lief nochmal wie ein Spielfilm an mir vorbei.
Äußerlich stoisch, aber innerlich gespannt wie eine Feder, schob ich mir die 2 Brötchen mit Honig und Marmelade rein. Carbo-Loading complete! Endlich!
Entgegen meiner üblichen Angewohnheiten waren wir bereits 1,5h vor dem Start auf dem Gelände. Also erstmal in der warmen Messehalle bleiben. 1 Stunde vor dem Start noch eine überreife Banane, noch mal aufs Klo, Treffen mit David. Das alles zog eher an mir vorbei, als das ich aktiv daran teilgenommen hätte. Letzte Nachrichten von den Kumpels aus der Heimat, kurze Rückmeldung, dass ich laufen werde und alles raushauen werde.
Ca. 40 Minuten vor dem Start begann ich mich warm zu machen. Wind und Kälte waren etwas unangenehm, aber in einem unproblematischen Rahmen. 3 Strides, wieder vermelden die Beine: "Wir sind bereit! Wann geht's endlich los?" Ich habe meine Motivationsmusik auf den Ohren, bin in meiner eigenen Welt. So langsam beginne ich innerlich zu spüren, hier geht heute was. Mein Starttempo setzte ich auf 3:55Min/km fest, Zielzeit 2:45h, volles Risiko!
Vernünftig war das wahrscheinlich nicht, aber ich wollte es versuchen. Die vielen einsamen Kilometer, die Einschränkung anderer Hobbies, die Trainings früh am Morgen (selten) oder spät in der Nacht (sehr häufig) sollten nicht umsonst gewesen sein.
„IT’S GO TIME!“
15 Minuten vor dem Start wollte ich in die Aufstellung, aber wie immer kam natürlich der Drang ein letztes Mal die Toilette aufsuchen zu müssen dazwischen. Zum Glück fand ich im Parkhaus eine wenig besuchte und war somit 10 Minuten vor Start am Block. Nur fand ich den Eingang nicht. Leichte Panik stieg in mir auf. Vor mir kletterten mehrere Leute von der Seite über den Zaun. Also ohne groß Nachzudenken hinterher. Wir standen extrem eng und immer mehr Leute stiegen neben mir über den Zaun, schubsten und drängelten, das reinste Chaos.
Ich versuchte meine Ruhe zu finden, nochmal die wichtigsten Sachen durchzugehen. "Locker angehen", "nicht überziehen", "bis Kilometer 30 mit dem Kopf laufen, dann alles was noch geht". Hier in der engen Startaufstellung war es angenehm warm. Ich hatte mich für ein langes Kompressionsshirt unter dem Singlet, Handschuhe, Stirnband und eine Tight unter den Split-Shorts entschieden. Um mich herum viele Leute nur im Singlet. Hatte ich mich zu warm angezogen?
Pünktlich um 10 fiel der Startschuss und zäh und behäbig setzte sich die Menge in Gang. Leicht vor mir die 3h-Pacer, um mich herum Leute mit 3:20er Zielzeiten auf dem Arm. Wie das mit dem Sub3-Block zusammenpasst bleibt ihr Geheimnis.
Die ersten Kilometer sind extrem locker, es fühlt sich wie joggen an. Auf die Uhr schaue ich nicht, im engen Gedrängel heißt es aufpassen. Ich sehe das erste Mal meine Freundin, bei Kilometer 4, Daumen hoch, alles gut soweit. Die erste Verpflegungsstelle lasse ich wie geplant aus, ich hatte mich ja vor dem Rennen ausreichend versorgt. Es geht im wilden Zickzack durch die Frankfurter Innenstadt. Ich lasse die Gedanken schweifen, achte auf die Menschen am Rand, die Mitläufer, die Gebäude die wir passieren.
So geht es weiter bis Kilometer 10, hier habe ich die erste meiner 6 Trinkflaschen mit dem Hydrogel des bekannten schwedischen Unternehmens stehen. Ein netter Service in Frankfurt, dies ab 2:45h Zielzeit anzubieten. Ich habe 250ml in jeder Flasche, 40g Kohlenhydrate. Dazu habe ich 3 Gels bei mir mit jeweils ca. 30g KH. Mein Plan ist mindestens 1 Gel und eine Flasche pro Stunde zu mir zu nehmen. Meine Flasche finde ich problemlos, nehme sie für 1-2 Kilometer mit und kann aufgrund des gemütlichen Tempos auch problemlos trinken. Ich schaue zum ersten Mal auf die Zeit, ca. 39:20 für die ersten 10km, 3:56er Schnitt, perfekt.
Langsam wird mir warm, die Handschuhe ziehe ich bereits bei Kilometer 8 aus und werfe sie bei Kilometer 14 meiner Freundin zu. Da passiert das Maleur und eines meiner Gels fliegt im hohen Bogen hinterher. Zum Glück war ich bei der Planung der Verpflegung großzügig, sodass ich ruhig bleibe.
Und schon folgt die nächste Verpflegungsstation. Flasche finden, Flasche schnappen, Trinken, wegwerfen. Ich beglückwünsche mich selbst auf Eigenverpflegung gesetzt zu haben, so erspare ich mir den Tumult an den Tischen. Kurz vor einem solchen werde ich von einer jungen Frau unsanft zur Seite geschubst. Da sag noch einer nur Männer wären aggressiv.
Die Zeit vergeht wie im Fluge. Es wird langsam leerer auf der Strecke, das Feld zieht sich in die Länge. Ich beginne mich nach vorn zu orientieren und werde - für mich selbst unmerklich - langsam schneller. Dort mal schnell den Anschluss hergestellt, da mal flott vorbei. Ich achte jetzt wieder mehr auf das Rennen, der Fokus nimmt zu. Ich beginne beim Piepen der automatischen Rundennahme nun auch öfter auf die Uhr zu schauen: 3:45/3:38/3:35, die Zeiten verblüffen mich. Egal, es fühlt sich richtig an. Ich komme an eine größere Gruppe heran in der sich 2 Frauen vorn befinden. Die erste erkenne ich sofort. Victoria Brandt habe ich schon bei einigen Läufen bei uns in der Region gesehen. Die andere fällt mir aufgrund ihres großartigen Laufstils auf. Das Tempo passt gerade sehr gut, also bleibe ich ein wenig in der Gruppe.
Die Strecke wird nun langsam etwas langweiliger, es gibt nicht viel zu sehen, die Zuschauer werden auch weniger. Wir haben angenehmen Rückenwind, der das Tempo weiterhin oben hält. Ich passiere eine Reihe von Läufern, einige sehen schon angestrengt aus. Wir durchlaufen die Halbmarathon-Marke. 1:20:56h zeigt meine Uhr. Etwas flott, sagt der Kopf. Passt vom Tempogefühl, sagt das Läuferherz. Ich beginne zum ersten Mal zu rechnen. Mit einer 1:24h auf der zweiten Hälfte kann ich mein Ziel schaffen, irre bei der Vorwoche. Das ist ein 4er Schnitt, den kannst du eigentlich immer laufen. Allerdings ist es der erste Marathon, die Welt nach Kilometer 35 kenne ich nicht, wohl aber die Legenden…
Ich löse mich wieder aus einer Gruppe laufe auf der Schwanheimer Brücke, trotz böigem Gegenwind, zur nächsten hin. Das Tempo passt, ich reihe mich ein. Es geht durch Höchst, wieder mehr Zuschauer. Ein leichter Anstieg und wieder runter, ich lasse es laufen. Plötzlich merke ich, dass ich allein vor der Gruppe bin. Nach vorn sehe ich nur vereinzelte Läufer, es sind noch 14km, die gefürchtete Mainzer Landstraße, Gegenwind.
Jetzt ist guter Rat teuer. Ich entscheide mich mein Tempo beizubehalten. Es wird langsam anstrengend. Der lockere Schritt der ersten Rennhälfte ist weg. „Marathon beginnt bei Kilometer 30“. Es klingt wie eine Plattitüde. Ich spüre am eigenen Leib, wie wahr sie ist. Die Uhr wird nun ein treuer Begleiter und tröstet mich in der Einsamkeit mit konstanten Zeiten um 3:45. Ich werde nicht langsamer. Ich beginne im Kopf zu rechnen, es lenkt mich von den zunehmenden Schmerzen in den Muskeln ab. Ich liege über 3 Minuten vor meinem absoluten Traumziel, aber noch liegen 12 harte Kilometer vor mir.
Bei Kilometer 30 wieder eine Verpflegung. Wir haben meine Flaschen mit Bildern und Sprüchen gestaltet. „Pain is just French for bread“ Ich muss lachen, der Spruch hat seine Wirkung nicht verfehlt. Es geht nun schier endlos geradeaus. Ich sammle weiter Läufer um Läufer vor mir ein. Ich sehe die ersten Aussteiger. Ein paar der Elite-Frauen kommen „von vorn zurück“. Langsam laufe ich im Tunnel. Die Kilometer Schilder stehen nun gefühlt immer weiter auseinander, die Uhr beruhigt mich weiter mit konstanten Zeiten.
Das Ende der ewigen Gerade ist im Blick, endlich Abwechslung! Von hinten höre ich auf einmal Schritte, die Frau mit dem grandiosen Laufstil zieht an mir vorbei. Ich bleibe dran, erfreue mich an ihrem kraftvollen Schritt. Meiner wird müder, ich gleiche es über eine höhere Frequenz aus. Die rechte Wade deutet einen Krampf an. Ich beginne mehr über die Ferse zu laufen, das scheint ihr gut zu tun, Gott sei Dank.
Es geht bei Kilometer 36/37 am Ziel vorbei, das ist geistige Folter. Ich sehe die Elite Damen ins Ziel kommen. Der Reporter spricht von 2:20h. Kurz rechne ich nach: für 2:45h brauche ich einen 5er Schnitt, für 2:40h müsste ich ca. 3:40 durchlaufen. Zum ersten Mal wird mir überhaupt bewusst, dass ich hier tatsächlich 2:40 angreifen kann!
Der innere Dialog wird schwieriger. „Du schaffst die 2:45 locker, nimm doch einfach etwas raus“ – „Bei Kilometer 40 kommt eine Verpflegung, da kannst du kurz gehen“. Ich entgegne „Genau dafür habe ich so hart trainiert, nicht für die lockeren Kilometer am Anfang, sondern für die am Ende wo es weh tut.“ Irgendwie geht es weiter flott voran. Die Oberschenkel schmerzen, die Füße schlürfen gefühlt nur noch über den Boden. „Release the Kraken“ ruft mir meine Freundin zu, ein Lächeln huscht über mein Gesicht. (Wer den Spruch verstehen will, muss den Marathon Training Academy Podcast hören

)
Ich versuche weiter Druck zu machen, aber die Beine sind am Limit. Jetzt bloß nicht noch einen Krampf verursachen, denke ich. Kilometer 40 die Uhr zeigt knapp 2:32h. Das Rechnen fällt schwer. Ich überschlage, dass auch 3:40Min/km nun nicht mehr reichen werden. Die Zahlen auf der Uhr werden größer, der Wind bläst stark von vorn, die Beine schmerzen. Es sind nur noch wenige Zuschauer an der Strecke, die dafür aber umso enthusiastischer die Läufer anfeuern. Alle leiden, man kann es jedem ansehen. Ich überhole noch ein paar, von hinten kommt keiner mehr, es ist sehr einsam trotz 15.000 Teilnehmern.
Ich treffe die Entscheidung es nicht weiter zu forcieren, möchte den Zieleinlauf „genießen“ so weit das überhaupt noch geht. Nicht viel, aber ein kleines bisschen gebe ich nach, verliere den Kampf gegen die innere Stimme. Wir kommen auf die Straße, die uns zur Festhalle führt. Auf der Gegenseite kommen die Läufer entgegen, die noch 5 Kilometer vor sich haben. Der Bogen verkündet den letzten Kilometer. Schlusssprint? „NEIN“ schreit jede Sehne meines Körpers, ich gebe nach. Es fehlte die Überzeugung in meiner Aufforderung.
Wir biegen auf den roten Teppich ein, es geht in die Festhalle. Die Uhr zeigt 2:40:xx die Emotionen brechen heraus. Ich juble, ich schreie, die Anspannung der letzten Woche, das Wissen um den langen Weg, der mich hierher geführt hat – ich sinke zu Boden. Ich kann es im ersten Moment nicht fassen. 2:40!!! Das hätte ich auch unter optimalen Bedingungen nicht erwartet, ja nicht für möglich gehalten. Ich hätte am Morgen noch sofort eingeschlagen, wenn mir jemand eine 2:55 angeboten hätte und jetzt das. Mir wird heiß und kalt, ich denke an Freunde/Wegbegleiter, ein unglaublicher Freudentaumel…
Der freundliche Helfer vom DRK fragt mich mehrfach ob alles in Ordnung ist, ich komme langsam wieder zu mir. Fast schon automatisch stehe ich auf, gehe zum Ausgang. Ich muss mich abstützen, die Beine sind Brei, mein Kopf ist leer, ich habe alles gegeben, was ich an diesem Tag in mir hatte!
Es dauert eine Weile bis ich wieder richtig bei mir bin. Ich hole mir warmen Tee, der tut gut. Ich halte nach David Ausschau, wie es ihm wohl ergangen ist? Ich hole mir meine Medaille, gehe zum Ausgang, falle meiner Freundin in die Arme. Noch einmal bricht die Freude aus mir heraus, die Anspannung fällt nun endgültig ab, wir freuen uns gemeinsam.
Auf dem Telefon wimmelt es schon von Nachrichten. Jede Menge Freunde haben am Fernseher und an der App gesessen und freuen sich fast genauso enthusiastisch wie ich selbst. Meine Freundin ermahnt mich zum Glück, ich solle unter die Dusche und raus aus den nassen Sachen. Die Dusche tut gut. Noch immer grinse ich über das ganze Gesicht, Endorphine satt. Ich lasse mich massieren, die Beine werden wieder lockerer, sogar Treppen komme ich hoch und wieder runter
Am Abend gibt es noch ein schönes Abendessen im Pub mit Guiness und Whisky als Belohnung. Der fettige Bacon Burger tut gut nach 4 Tagen Carbo-Loading! Ein Tag wie gemalt! Zufrieden sinke ich um 11 ins Bett.