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von CentralParker
New.
York.
City.
Woran musst Du denken, wenn Du diese drei Worte liest?
Broadway, Times Square, Neonlichter, Showstars?
Wall Street, Stretchlimousinen, Türsteher, Superreiche?
Obdachlose auf Pappkartons schlafend, Hot-Dog-Verkäufer bei Minustemperaturen?
Empire State Building, Grand Central Station, Guggenheim Museum, Central Park?
Freiheitsstatue? Terrorangriffe? Vereinte Nationen?
Yankees? Mets? Jets? Giants? Knicks? Rangers?
Es gibt hunderte von Dingen, an die Du denken kannst, wenn Du „New York City“ liest. Vielleicht kennst Du sie aus Büchern, Film und Fernsehen, und vielleicht bist Du auch schon dort gewesen und hast sie selber bestaunt. Aber eins haben sie alle gemeinsam: Sie sind gewaltig, respekteinflößend, bestaunenswert – aber New York findet immer außerhalb Deiner selbst statt. Du bist nie ein Teil von New York, und New York ist nie ein Teil von Dir. Du gehörst nie wirklich dazu.
Am ersten Sonntag im November ist das anders. Da bist Du ein Teil von New York City. Ein Teil von Millionen, die lachen, weinen, tanzen, humpeln, schreien, winken, lärmen, lächeln oder leiden. Aber immer ein Teil. Von der Hauptstadt der Welt!
Lass‘ Dir erzählen.
In aller Herrgottsfrühe stehe ich auf und springe unter die Dusche. Heute ist der Tag, auf den ich seit über einem Jahr hinfiebere! Monatelang habe ich die ganze Familie verrückt gemacht mit meinen Erzählungen. Meine Frau Courtenay, ihre drei Söhne und zwei Schwiegertöchter, und auch mein Bruder sind nach New York gekommen. Sie werden an der Strecke stehen, mich anfeuern und per Handy den Rest der Familie auf dem laufenden halten, der in Deutschland geblieben ist. Außerdem hat Tom im Runner’s World Forum einen Thread gestartet, in dem der ein oder andere Radiergummi vielleicht ebenfalls meine Zeiten verfolgen wird. Nun muss ich also beweisen, dass ich nicht nur träumen kann, sondern diesen verflixten Marathon auch wirklich laufe!
Gottseidank habe ich gestern abend schon alles bereit gelegt. Die Startnummer ans Shirt geheftet, meine „Snickers-Sandwiches“ geschmiert, den Chip an den Schuh geschnallt – sonst würde ich jetzt mit Sicherheit die Hälfte vergessen. In meinen „Ebay-Einweg-Klamotten“, die mich bis zum Start warmhalten sollen, sehe ich bestimmt furchtbar aus. Aber schon in der Hotel-Lobby wird sich herausstellen, dass der NYC Marathon als Fashion-Wettbewerb ohnehin ungeeignet ist – soweit also kein Grund zur Sorge.
Im Bus geht es um 6 Uhr morgens durch eine verschlafene Stadt, die Fahrt bis zum Startgelände dauert ungefähr eine Stunde. Ein wenig Dösen ist angesagt. Erst als eine der Mitreisenden fragt „Habt Ihr eigentlich schon mal drüber nachgedacht, dass wir den Rückweg komplett laufen müssen?“, schnellt der Adrenalinspiegel wieder nach oben. Jungejunge… so hatte ich das noch gar nicht betrachtet!
Das Start-Areal ist in unzähligen Laufberichten bereits umfangreich beschrieben worden, daher möchte ich Euch nicht damit langweilen. An dieser Stelle nur soviel: 1. Ich bewundere Menschen, die beim Live-Auftritt einer Rockband richtig abzappeln können, selbst wenn sie in einer Stunde einen Marathon laufen werden! 2. Die Freiwilligen sind sensationell – so viele gute Wünsche, die von Herzen zu kommen scheinen, so viel Engagement – toll! 3. Die Internationalität der Starter ist ein Erlebnis für sich. Alle Sprachen höre ich hier, und die „Peru“-, „Italien“- und „Brasilien“-Shirts geben mir das Gefühl, als hätte ich irgendwie doch noch die Teilnahme an den Olympischen Spielen geschafft! 4. Der Start ist zwar vielleicht ein wenig chaotischer als bei einem durchschnittlichen Volkslauf in Westfalen, aber gemessen an der Menge der Starter ist er sehr gut organisiert – von Verpflegung über medizinischer Betreuung bis hin zur Startaufstellung selbst klappt das wesentlich besser, als ich gedacht hatte!
Um 9.40 Uhr stehen wir in der „Zweiten Welle“ in unseren Startkäfigen, als ein Kanonenböller durch die Luft wummert. Der Start ist soeben offiziell freigegeben worden! Lautes Gejohle, Klatschen, Pfeifen – jetzt geht’s los!
Bis „wir“ dann endlich losdürfen, vergehen nochmal weitere zwanzig Minuten. Als europäischem Fernsehzuschauer ist mir das Pathos, das amerikanische Massenveranstaltungen haben, manchmal ein wenig mächtig – aber hier läuft’s mir denn doch kalt den Rücken hinunter. Erst gehen wir durch einen Torbogen, auf dem die Strecke skizziert ist - fast jeder Läufer klatscht beim Durchschreiten wortlos auf den Punkt, der im Central Park aufgezeichnet ist und das Ziel unserer Reise markiert. Dann bekommen wir eine Live-Darbietung von „America The Beautiful“ (nicht die Nationalhymne, aber nahe dran…), und zum Schluss geht es dann mit Frank Sinatra’s „New York, New York“ auf die Strecke.
Der Start auf der Verrazano-Narrows-Brücke muss konkurrenzlos der spektakulärste Start in der Welt des Sports sein. Eine gigantische Hängebrücke – die größte Nordamerikas, größer als die berühmte Golden Gate in San Francisco! Normalerweise fließt hier auf zwei Ebenen jeweils zwölfspurig der Verkehr, jetzt ist sie voll mit Läufern! Unter uns sprühen die Feuerwehrboote gigantische Bögen von blau-weiß-rot gefärbtem Wasser. Neben uns sieht man Manhattan mit den Wolkenkratzern. Und über uns schweben die Hubschrauber der Fernsehstationen mit den offenen Seitentüren, durch die die Kameramänner und –frauen ihre Bilder aufnehmen. Das ist der helle Wahnsinn!
Ruhig, Guntram, in der Euphorie jetzt nicht zu schnell angehen… locker bleiben, Rhythmus finden. Auf der Mitte der Brücke ist die erste von 26,2 Meilen absolviert. Ein kurzer Blick auf die Uhr – auweia, trotzdem eine Minute zu schnell! Also schön… ein bisschen Tempo raus. Wenn ich diesen Vorsprung vor meiner "Wunsch-und-Traum-Zeit" von 3:44:59 einigermaßen halten kann, dann habe ich einen kleinen Puffer für das Ende, und da werde ich ihn voraussichtlich auch brauchen.
Die Brückenrampe wieder runter, rein nach Brooklyn. „Welcome to Brooklyn“ schreien mir einige Zuschauer entgegen. „Thank you“ rufe ich zurück und recke beide Daumen nach oben.
Was nun auf den nächsten 30 Kilometern abgeht, ist der Hammer. Überall stehen die Menschen in mehreren Reihen. Sie feuern die Läufer an, sie machen Lärm. Über 100 Bands – manche richtig klasse, manche rührend bemüht – motivieren uns. Die Sänger erzählen uns immer wieder übers Mikrofon, wie fantastisch wir doch aussehen. Die Zuschauer klappern, tröten, lärmen, schwenken Transparente, applaudieren… das hört überhaupt nicht auf! Die Feuerwehr hat diese gigantischen Feuerwehr-Laster an den Streckenrand gefahren - darauf stehen die Feuerwehrleute in voller Montur und feuern uns übers Megafon an. „You look fantastic, keep going!“
Die wahren Helden sind die Behinderten. Lange laufe ich mit einem kolumbianischen Läuferpaar mit, bei dem ein Sehender einen Blinden führt. Zwischendurch überholen wir einen Beinamputierten, bei dem beide Oberschenkel in eine einzige von diesen „Sprungschaufeln“ münden, auf der er mit Krücken einen Marathon läuft! Rollstuhlfahrer wuchten sich die Brückenrampen hinauf und strahlen vor Glück. Es ist echt inspirierend, wenn man sieht, mit wieviel Mut, Optimismus und grenzenloser Lebensfreude diese Mitmenschen durch New York City marathonen. Sensationell!
Viele Läufer laufen für einen guten Zweck – generell ist die Wohltätigkeits-Kultur in den USA ja wesentlich stärker verbreitet als hier. Aber wofür hier alles gelaufen wird, das ist schon irre. Krebs, Aids, Behinderte, Arme, Diabetes, Analphabetismus,… praktisch kein guter Zweck, der hier nicht irgendwie unterstützt wird. Bis vor kurzem war ich noch mein eigener Held, weil ich ja immerhin am NYC-Marathon teilnehme. Das tut schließlich nicht jeder, ha! Und jetzt fühle ich mich ganz klein und nehme demütig zur Kenntnis, welche Schicksale sich um mich herum abspielen, und mit welcher unglaublichen Lebensfreude diesen Herausforderungen begegnet wird!
Viele Läufer haben ihren Namen auf dem Shirt. Dass „Gina“ in Italien ein weiblicher Vorname ist, wusste ich. Dass man zur Motivation in den USA „Go Gina“ sagen würde, habe ich mir auch gedacht. Aber wenn das „go“ dann ins Italienische übersetzt wird, sieht das Ganze auf einem T-Shirt doch so interessant aus, dass ich beim Laufen lachen muss. „Va Gina!“ steht da in dicken Lettern!
Bei Meile 8 sehe ich meine Familie zum ersten Mal. Deutsche und amerikanischen Fahnen schwenkend, sind sie schon von weitem zu sehen. Sie feuern mich an, während ich kurz meine Frau küsse und weiterlaufe. Wir hatten fünf Treffen verabredet – aber es werden dann doch nur drei, denn ich bin wie auf Flügeln unterwegs. Die kommen mit der U-Bahn nicht zu den Treffpunkten, bevor ich schon wieder weiter bin. Unglaublich, wie motivierend dieser Lauf ist!
Das Schwenken vieler deutscher Fahnen zahlt sich zumindest für meinen Stiefsohn aus. Er ist Mitte Zwanzig, groß gewachsen und Frauen finden ihn wohl gutausehend. Jedenfalls ist er stolz wie Bolle, als aus 50 Metern Entfernung eine deutsche Läuferin kommt, die Fahnen sieht, sich ergriffen ans Herz fasst, auf ihn zusteuert, und ihm einen Kuss auf die Wange drückt!
So könnte ich Euch stundenlang weitererzählen – von dem Szenenapplaus, den der Gospel-Chor mir für meine eingesprungene Pirouette spendet, oder von den Polizisten, die ansonsten immer so grimmig dreinschauen und heute Läufer high-fiven. Von den „Finishing is your only fucking option“-Plakaten, und von den Menschenmassen an der Queensboro Bridge (Doppeldank an Frauschmitt für die inspirierende Beschreibung des Brückenlaufs – die Frauschmitt-Memorial-Mile hat hier stattgefunden!). Als Kölner Rosenmontagszug-Besucher ist man ja nicht ganz anspruchslos, aber das hier ist wohl kaum zu überbieten.
Das einzige, was sich fast genauso anfühlt wie bei jedem anderen Lauf, sind die letzten 5 Kilometer. Irgendein Masochist hat es wohl für eine gute Idee gehalten, den Schluss kurvig und wellig anzulegen – na, herzlichen Glückwunsch. Da laufe ich extra auf Meeresspiegelhöhe, und die bauen hier eine Bergetappe ein, das ist ja fies! Aber dann habe ich Tinas Stimme aus Oberstenfeld im Ohr: "Da hab' ich gedacht, okay, dann tut's halt ein bisschen weh." Und ich denke an Gunter, der mein Vorbild ist und in Frankfurt eine Fabelzeit vorgelegt hat. Und an alle anderen Radiergummis, denen ich meine Zeit ja später beichten muss. Jetzt sei kein Weichei, Guntram, gib alles! Und der Central Park entschädigt mit Zuschauern, die ebenfalls nochmal alles geben. Sie brüllen und klatschen und trampeln – sie tragen mich förmlich ins Ziel!
Ein allerletzter Blick auf die Uhr – wenn alles gut geht, schaffe ich es tatsächlich unter 3:45. Das wär‘ ja irre! Also jetzt ist endgültig Schluss mit Lustig, Guntram, und vergiss die Strategie – bergab wird gebolzt, was das Zeug hält, und lauf‘ auf der Ideallinie!
Die letzte Meile ist als Countdown ausgelegt: „1 more mile“ sagt ein Schild. „800 meters left“ ein anderes. „400 meters to the finish line“. Bleib‘ dran, Guntram, hau‘ rein! „200 meters to the finish line“. Nicht nachlassen!! Und… DA ist die Ziellinie, jetzt Fotografen angrinsen, und nix wie drüber!!
3:44:44. Nicht zu fassen. Wenn Sting das geahnt hätte, hätte er damals vermutlich „I’m a Radiergummi in New York“ komponiert. Denn auf einmal ist alles anders.
Ich bin ein Teil von New York. Von der Hauptstadt der Welt. Und wirklich, wirklich stolz darauf. Und sehr, sehr dankbar. Das Leben ist wunderschön.
Renn', als wenn Du geklaut hättest !!