Schlammalternative: mit dem Rad in die Heimat
Nachdem ich den Tough Mudder Freitagabend kurzerhand aus meinem Programm gestrichen hatte (ich wollte den Wisch nicht unterschreiben) lautete die große Frage: Wie lautet die Alternative für dieses Wochenende?
Spontaner Entschluss am Samstagmorgen (ich war früh wach): Ich schwing mich auf´s Rad und fahre in die Heimat. Kurz bei Google Maps geschaut: Düsseldorf - Gronau mit dem Rad ca. 135km. Kurz ein paar Wegpunkte auf einem Schmierzettel notiert: Düsseldorf - Kaiserswerth - Duisburg - Oberhausen - Dorsten - Gescher - Ahaus - Gronau. Ein paar Sachen in den Rucksack gepackt und los!
Bereits in Kaiserswerth kurvte ich 3x durch einen Kreisvekehr, unschlüssig, welche Abfahrt ich nehmen sollte... na fein, ich und mein Orientierungssinn, dazu nur ein kleiner Schmierzettel, das kann ja ein Spaß werden...

Aber egal! Das Wetter ist toll, das WE ist lang, ich hab den ganzen lieben langen Tag Zeit, es kommt nicht aufs Tempo an, ich mache einfach eine schöne Tagestour draus.

Außerdem kann sprechenden Leuten geholfen werden, also Leute anquatschen und fragen. Als ich das 5. Mal jemanden ansprechen musste, weil ich mir an einer Kreuzung wieder mal nicht sicher war, wo ich lang muss, zeigte meine Garmin grad mal 9km an. Toller Schnitt Lilly. Fein machst du das. Ich bin gespannt, wie viele Leute ich heute kennenlernen werde, bis ich in Gronau ankomme..
Vorder- und Hinterreifen waren übrigens ziemlich platt. Kein Wunder, dass das Rad so schwerfällig lief. Irgendwo hinter Kaiserwerth und vor Duisburg passierte ich einen kleinen Radladen, der mir die Reifen aufpumpte und ab da lief es auch endlich. Angermund ist ein wunderschönes kleines Örtchen. Ob ich da wirklich durch musste, keine Ahnung, aber schön war´s dort. Ich hatte dort auch noch so viel Freude, dass ich jedes Mal, wenn ich nach dem Weg fragte, mich bei der Gegenfrage "kürzester/schnellster Weg oder lieber länger, dafür landschaftlich reizvoll?" für die landschaftlich reizvolle Variante entschied. Davon bin ich relativ zügig abgekommen, weil ich so gar keine Orientierungspunkte und Schilder mehr fand, teils völlig einsam durch die Pampa radelte und auch niemanden mehr fragen konnte. Entlang der großen Straßen war es zwar nicht so schön, aber immerhin fand man regelmäßige Beschilderungen.
Meine nächsten Streckenpunkte waren Duisburg und Oberhausen. Ein nettes Pärchen an einer Eisdiele sagte mir, wenn ich als nächsten Streckenpunkt Richtung Centro Oberhausen möchte, sollte ich mitten durch das Duisburger Zentrum fahren, von dort aus weiter durch Duisburg Duissern, Ruhrort, Meiderich.
Nächste Kreuzung: Kein Schild Duisburg-Zentrum gefunden.
Mir kam ein älterer türkischer Mitbürger auf einem Rad entgegen, den ich fragte. Er: "Ich auch fahren Zentrum, ich zeigen." Sprichts und dreht um.
Eigentlich wollte er doch in die andere Richtung? Hm. Auf meine Nachfrage schüttelte er eifrig den Kopf und meinte: "Nein, nein. Alles gut. Ich zeigen. Nicht weit, ich zeigen!" Naja, ist ja nett. So muss ich wenigstens nicht alle 500m nach dem Weg fragen. Er fragte mich, ob ich zum Spargelfest in der Duisburger Innenstadt wolle. Als ich ihm sagte, dass mein Ziel ja eigentlich gar nicht das Zentrum ist, sondern Duissern, meinte er, dass er mich auch bis Duissern bringen könne: "Ich begleiten, ich zeigen!" Er ließ sich nicht davon abbringen, dass es mir ausreichen würde, wenn er mir die Richtung nennt. Nein, er fand mich wohl so orientierungslos oder Duisburg so ein heißes Pflaster für alleinreisende Frauen (man weiß es nicht), dass er sich nicht davon abbringen ließ, mich zu meinem Bestimmungsort zu begleiten. Ich radelte ihm also einfach hinterher. Durch das Zentrum Richtung Duissern. Er fragte mich, was ich in Duissern wolle. Meine Antwort: "Naja eigentlich will ich auch nicht nach Duissern, es ist eben nur ein Streckenpunkt, ich muss weiter Richtung Ruhrort." Er runzelte etwas die Stirn, dachte kurz nach, sagte aber dann: "Ah. Ruhrort. Ich arbeiten, ich können zeigen. Ich begleiten auch bis Ruhrort." Dasselbe Spiel hatten wir dann wieder. Was ich denn dort wolle und ich nannte ihm den nächsten Streckenpunkt, dass es eigentlich weiter nach Meiderich gehen soll. Da seufzte der alte Mann schon tief.. runzelte die Stirn. Seufzte wieder. Und nochmal. Und fragte dann, was ich denn Meiderich wolle. Als ich ihm da sagte, dass ich ja eigentlich gar nicht nach Meiderich wolle, sondern das auch nur ein Streckenpunkt ist Richtung Oberhausen, da war der alte Mann völlig fertig... Er seufzte und runzelte und seufzte bis Meiderich immer im Wechsel und sagte dann völlig verzeifelt: "Ich nicht kann zeigen bis Oberhausen!"

Ich habe mich dann artig bedankt und ihm 1000. Mal versichert, dass er ruhig abdrehen soll und es reicht, wenn er mir grob die Richtung zeigt.
Die Centro Promenade in Oberhausen war dann auch ganz leicht zu finden. Dort habe ich bei feinstem Sonnenschein und 20 Grad ein Pause eingelegt und zu Mittag gegessen. Dann ging es über den Rhein-Herne-Kanal Richtung Dorsten. Auch kein Problem. Von dort sollte ich laut meinem schlauen Schmierzettel über Heiden nach Gescher Richtung Ahaus. In Gedenken an den verzweifelten türkischen Opi habe ich da ab jedem, der mich fragte, wo ich denn eigentlich hin wolle, direkt erzählt, dass es nach Gronau an der holl. Grenze gehen soll. Ein Fehler! So bekam ich in Dorsten nämlich eine Empfehlung statt über Heiden und Gescher besser über Borken - Stadtlohn - Ahaus zu fahren. Auf der Strecke hatte ich enorme Probleme, weil dort streckenweise kein Radweg vorhanden war. Also immer wieder umdrehen, Alternative suchen, querfeldein durch Wirtschafts- und Feldweg, immer wieder verfahren...
Da ich beim Radfahren ähnlich empfindlich wie Muddi bin (nach 200m tut mir der Hintern weh), habe ich unterwegs alle paar km die Haltung geändert. Wenn das Sitzfleisch zu sehr schmerzte, habe ich in mich ganz aufrecht in den Sattel gesetzt. Wenn das auch weh tat, habe ich den Winkel wieder verändert und die Unterarme flach auf den Lenker gelegt, usw... Nach über 100km tat aber echt alles weh. Egal, wie ich auf dem Sattel herumgerutscht bin oder in welchem Winkel, jede Position schmerzte mittlerweile. Dennoch ging es irgendwie. Ich habe die jeweilige Sitzposition einfach beibehalten bis die Schmerzen unerträglich wurden und bin dann in eine andere Sitzposition gewechselt, bis in der dieser die Schmerzen zu stark wurden, usw...
Als ich in Südlohn ankam, wähnte ich mich schon fast zuhause. Südlohn - Stadtlohn - Ahaus, das ist alles recht nah beieinander. Und Ahaus bedeutet schon fast "Zuhause". Zwischen Südlohn und Stadtlohn kurvte ich knapp 2 Stunden rum. Fragt mich nicht, wie ich das geschafft habe. Meine Garmin hatte zwischenzeitlich schon hinter Dorsten aufgegeben. Da die Radtour so spontan war, hatte ich die Batterie nicht vollständig aufgeladen. Irgendwie bin ich immer falsch gefahren. Ahaus war direkt ausgeschildert, also bin ich dem Weg gefolgt. Ergebnis: Bundesstraße ohne Radweg. Umgedreht. Vreden war in anderer Richtung ausgeschildert. Okay, Vreden kenne ich, dann fahr ich eben da lang. Ergebnis: Ich kam wieder an eine Straße ohne Radweg. Wieder umgedreht. Als ich zum 3. Mal am Gasthaus Nagel vorbei kam, habe ich dort Pause gemacht. Völlig frustiert, dass ich es einfach nicht schaffe, aus Südlohn herauszufinden. Dort habe ich aber jemanden ausfindig gemacht, der mir erklären konnte, welche Richtung und dass 2 Straßen parallel zur B70 ein Radweg bis Ahaus verläuft! Yiepppieh!!!

Ohne diesen Typen wurde ich wahrscheinlich heute noch um das Gasthaus Nagel in Südlohn im Kreis herumkurven!
Bis Ahaus war ich soweit, dass das Ändern der Sitzpositionen mir nicht mehr half. Egal wie, die Schmerzen waren einfach nur unerträglich. Hölle. Die Freude über den Radweg währte nicht lang, weil der schmale Weg komplett von Baumwurzeln durchbrochen war. Was das für Schmerzen sind, wenn man nach gut 140km eh schon nicht mehr sitzen kann und dann kilometerweit mit dem Rad über Baumwurzeln "hoppelt".. ich weiß nicht, ob sich das jemand vorstellen kann... Gut, dass ich alleine dort unterwegs war. Ich hab jedes Mal ziemlich aufgeheult und nach Luft geschnappt, muss ein peinlicher Anblick gewesen sein. Jedenfalls ging diese Tortur kilometerweit und ich musste an Frau Isse und ihren Siebenstriemer denken. Eine Session mit Frau Isse und Siebenstriemer muss dagegen... ach was, Session.... eine komplettes Siebenstriemer-Weekend-Special...ach, lebenslange Haft bei Frau Isse mit Siebenstriemerzüchtigung müssen ein Witz dagegen sein! Und wehe, es behauptet jemals wieder jemand, ich würde mich zu Tode schonen oder hätte kein Quäl-Gen!!! Den werfe ich wegen Ketzerei den Löwen zum Fraß vor!
Als ich Ahaus erreicht hatte, dachte ich kurz darüber nach, ob ich den Rest mit Rad an der Hand zuende laufen soll, weil ich wirklich nicht mehr sitzen konnte. Müsste noch ca. ein HM sein. Ich kam an einen Kreisverkehr mit einem Schild "Gronau 20km". Ach, 20km... das schaffste auch noch irgendwie...
Die Straße ging immer geradeaus. Nach ca. 15 Minuten Fahrt stand da ein Schild "Gronau 21km". WTF????
Nach einer weiteren Viertelstunde ein Schild "Gronau 20km":
Ihr glaubt gar nicht, wie frustrierend sowas ist. Mental hat mich das völlig fertig gemacht. Ich wollte nicht mehr, es sind die letzten km und man kommt nicht vorwärts. Eine halbe Stunde gefahren und immer noch 20km? Ich hätte mich am liebsten schreiend in den Grünstreifen geworfen. Aber auf den letzten km schlapp machen? Nee...

Nach einer weiteren halben Stunde kam ein Schild: "Gronau 16km, Graes 4km".
Als ich das Ortsschild Graes passiert (also 4km später) stand da: "Gronau - 16km".
IMMER NOCH 16KM ! ! ! !

Mental hat mich das so richtig fertig gemacht. Stellt euch vor, ihr seid beim Marathon bei km 35 völlig platt und nach einer Viertelstunde laufen steht da "34km" und einer weiteren Viertelstunde wieder "35"....
Wer auch immer diese bescheurten Schilder unterwegs aufgestellt hat, gehört gevierteilt und gehängt. Jawohl.
Dennoch.. irgendwann... ich hab kaum noch dran geglaubt, kam tatsächlich das Ortseingangsschild Gronau! Und da war alles auch gar nicht mehr schlimm. Halb so wild. Den Beinen ging es noch gut, die Muskeln waren okay, der Nacken zwar etwas verspannt, ging aber... Nur mein Sitzfleisch war durch. Die letzten 500m die Straße zum Haus meiner Eltern runter bin ich auch nicht mehr gefahren, sondern gelaufen. Ofen aus. Um ca. 20:30 Uhr abends hat mich meine Ma ungläubig in die Arme geschlossen, mit den Worten: "Biste gelaufen??"
Nachtrag: Die Garmin war unterwegs leer. Ich habe mir einige Streckenpunkte unterwegs notiert (Feldwege, Straßennamen, etc.), um später über google maps nachvollziehen zu können, wo ich lang gefahren bin. Laut maps komme ich auf 160,5km. Da ich an einigen Kreuzungen erst in die falsche Richtung gefahren bin, wären 170km wohl realistisch. Ob 160 oder 170km ist im Endeffekt auch egal...
Der Plan lautete eigentlich, mein Citybike hier gegen ein Rennrad zu tauschen und morgen früh mit dem Rennrad zurückzufahren.
Die Beine sind heute zwar etwas müde (klar), aber muskulär ist soweit alles in Ordnung, dass ich mir den Rückweg zutrauen würde. Ich glaube aber nicht, dass ich morgen schon wieder auf einem Sattel sitzen kann....
