Ich möchte an dieser Stelle einen der führenden Intellektuellen dieses Landes, Boris Becker, zitieren: Ich liebe Euch alle. Ich schulde Euch noch einen Bericht. Hier isser.
Donnerstag, 29. April, 29 Grad, 14:00 Uhr auf der Autobahnraststätte Spessart. Mein Sohn fährt Rutschbahn, meine Frau isst Erdbeerkuchen mit viel Sahne, ich nuckle am Cappuccino und beschäftige mich mit meiner Vor-Wettkampfsdepression. Was tun, wenn das am Sonntag auch so heiß wird, wenn ich kärmpfe kriege. Bin ich langsam nicht zu alt für den ganzen Mist und so weiter. Eine Frau spricht mich an. Sie fragt, ob ihr helfen könne, die Tocher zur Toilette zu bringen. Das Mädel, so um die 20, stöhnt bei jedem Schritt. Mit Mühe und Not schaffen wir drei es in die Behinderten-Toilette. Ich frage: "Hast Du den starke Schmerzen?" Die junge Frau sagt: "Ja, schlimme Schmerzen. Bei jedem Schritt." Die Mutter klärt mich auf. Die Tochter hatte einen Unfall: Genickbruch, unzählige Operationen, aktuell hätten sich die Nerven, die in die Beine führen, entzündet. Ich beschließe: Nie mehr jammern, wenn ich die Startnummer überziehe. Ich werde dankbar sein, für jeden Meter, den ich laufen kann. Und ich werde mir am Sonntag den Hintern wegrennen, wenn es sein muss! Ich schlafe sehr gut an diesem Abend.
Freitag, 30. April. Es bläst ziemlich heftig am Rheinufer. Ich mach exakt nach mein Pfitzinger-Plan die letzten 6 x 100 Meter. Und zwar immer über die "42-Kilometer-Marke" drüber, die schon auf den Asphalt gepinselt ist. Ich stelle mir vor, wie schön es wird, die kleine Rampe zum Rheinufer hinterzudüsen - mit der Bestzeit auf der Anzeigentafel schon im Visier. Dieses Bild vom Zieleinlauf präge ich mir gut ein. Ich freu mich auf diese letzten 200 Meter. Drei dicke Touris im Anorak und Nikon-Digitalkameras qautschen mich an: "Nicht so schnell, junger Mann, der Marathon ist doch erst am Sonntag."
Samstag, 1. Mai. Es ist kühl, windig, gelegentlich kommt die Sonne raus. Mit Frau und Sohn auf dem Weg zur Rheinterasse, Startunterlagen holen. Auf halben Weg schießt Falk Cierpinski an uns vorbei. Die Geschwindigkeit, die der trabt, erreiche ich nicht mal im Sprint. Mein Selbstbewusstsein sinkt ins Bodenlose. Zudem zwicken meine Waden und Schienbeine wieder ein wenig. An einem Stand kann man sich ein Armband mit der Marschtabelle erstellen lassen. Der Mann will meine Zielzeit wissen. Ich schlucke trocken und sage: "3:50". Die Tabelle liest sich wie Science-Fiction für mich.
Mit Angstschweiß genässten Achseln kaufe ich noch ein paar Gels. An dem Stand einer schweizer Firma erkundige ich mich nach Kompressionsstrümpfen. Ich probier die schwarzen Dinger an, und es fühlt sich super an. Für den Marathon geben sie mir eine Geld-zurück-Garantie, falls ich unzufrieden sein sollte. Nachmittags trabe ich lockere 6 Kilometer mit den Wundersocken: Das Zwicken ist weg, alles fühlt sich gut an.
Der Abend vor dem Rennen: Zur Pasta-Party mit den anderen Foris kann ich leider nicht, da meine Frau mit ihren Schwestern und Mutter zum Tanz in den Mai geht. Mit Sohn und dem Mann meiner Schwägerin schau ich Sportschau, bin allerdings so abwesend, dass ich genauso auch ein Glas mit Goldfischen anstieren könnte. "Bist Du nervös", fragt Achim. "Wenn Du mich heute abend fragst, sage ich - es gibt nichts Dümmeres als Marathon zu laufen. Wenn Du mich morgen abend fragt, werde ich Dir sagen: Es gibt nichts Schöneres", antworte ich. Ich zwinge mich, eine komplette Pizza zu essen, auch das Bier will nicht schmecken.
Die Nacht wird schrecklich. Zwei Bilder verfolgen mich: Linz-Marathon - der 4-Stunden-Pacemaker und seine Truppe schießen wie ein ICE an mir vorbei und Füssen-Marathon 2009 - die 32-Kilometer-Marke. Ich muss bei der 4-Stunden-Gruppe abreißen lassen. Hoffentlich passiert mir das morgen nicht!
Der große Tag, Sonntag, 2. Mai. Aufwachen mit Fluchtgedanken. Einfach nicht antreten, das wäre doch was! Allerdings: Das Wetter ist perfekt. 14 Grad, bedeckt, nahzu windstill. Besser geht es fast nicht. Folglich wird das Routine-Programm abgespult. Zwei Brötchen mit Marmelade, Banane, Kaffee, Brustwarzen abkleben etc. Ich verspreche meiner Familie, den Vier-Stunden-Ballon auf keinen Fall vorbeizulassen, auch wenn ich den Pacemaker umtreten muss.
Zu Fuß gehts Richtung Zielbereich, Kleiderbeutel abgeben. Ein Kölner kommt dazu, und der ist mindestens so nervös wie ich. "Mein erster", sagt er. "Dann startest Du im weißen Todesblock?" Gelächter, die Spannung löst sich. Ich habe mir vorgenommen, mich strikt an die Tipps vom Pfitzinger zu halten. Also trabe ich im Startbereich jeweils fünf Minuten und dehne ein wenig. Meine Beine fühlen sich wunderbar frisch an.
Dann muss ich mich einordnen. Mit einem Schlag ist alle Nervosität weg. Ich bin gut vorbereitet, hab alles getan, was ich tun konnte. Für dieses Gefühl habe ich 18 Wochen lang trainiert. Ich stelle mir nochmal die vielen kalten Winternächte vor, an denen ich zum Laufen raus bin, ich erinnere mich an die Tempoläufe, die 32er - heute, sage ich mir, wirst Du die Ernte einfahren. Dann denke ich an alle die, die mir heute die Daumen drücken. Es ist schon toll, unser Fischer-Team!
Startschuss. Pfitzingers "Racing Strategies" für "midpack runner" kann ich fast auswendig aufsagen. Also den 1. Kilometer "defensiv" (da kennst Du Dich aus, 66tom!) angehen. Keine Ausweichmanöver, keine Beschleunigungen. Das Feld verteilt sich wunderbar. Blick auf den Garmin: 5:40, jetzt etwas schneller werden! Mühelos komme ich auf die 5:25 herunter. Das 1. Kilometer-Schild kommt schon, 5:33, wunderbar, jetzt ein Grüppchen finden, wo ich mich dranhängen kann.
Die ersten 21 sind die "time to cruise", Energie sparen, relaxen, sich alle Kraft für die 2. Hälfte aufheben. Meine "Opfer" kommen schnell in Sicht. Eine dreier-Gruppe, die zackig und wunderbar gleichmäßig läuft. Zwei junge Frauen, mit einem auffälligen schwarzen Werbeshirt für ein Sonnenstudio und ein Mann ungefähr meines Alters mit einem weißen Trikot mit der Aufschrift 42.195 KM. Die drei plaudern rege über Splits und Richtzeiten. Das erspart mir das Rechnen und den permanenten Blick auf die Uhr. Wir sind so mit 5:23 unterwegs. Das Tempo fühlt sich gut an. Die ersten Kilometer gehen weg wie Butter.
Ich trinke bei jeder Gelegenheit reichlich, danach schaff ich es mühelos, zu "meiner Gruppe" aufzuschließen. Auf den Garmin schaue ich gar nicht mehr. Ich genieße einfach das zügige Laufen, meine Beine fühlen sich wunderbar an - und schon jetzt werden wir von vielen Fans an der Strecke angefeuert. Herrlich, so muss ein Marathon sein!
Leider drückt zusehens meine Blase: es hilft nichts - bei Kilometer 8,5 steig ich fluchend in die Büsche, meine Gruppe ist weg auf nimmerwiedersehen! Ich verliere etwa 30 Sekunden, der Frust verfliegt aber schnell: Es geht über die Rheinbrücke nach Oberkassel - hier stehen die Leute Spalier. Ich komme in einen wunderbaren Rhythmus. Laufen, überholen, trinken, anlaufen, schauen, Gel runterwürgen, Fans abklatschen, sich über das eigene Tempo freuen - so etwas habe ich beim Marathon noch nie erlebt!
Die wenigen Steigungen spüre ich nicht. Bei der 21 Kilometer-Marke laufe ich auf Peter auf, der mir auf der 2. Hälfte sehr hilft. Mal bin ich vorne, dann kommt er wieder, dann laufen wir zusammen, ein schönes Spiel, bei dem wir gemeinsam kontinuierlich andere Läufer überholen. Ab Kilometer 25 fällt mir auf, dass die anderen Läufer um uns rum, zusehends Probleme bekommen. Mich begeistert die Strecke: Immer wieder eine herrliche Allee, an deren Ende schon das nächste Kilometer-Schild leuchtet. So geht es dahin 25, 26, 27, bei 30 dann banger Blick auf die Uhr: 2:44! Das sieht gut aus und ich hab immer noch Kraft.
Jetzt spür ich ein warmes Gefühl der Euphorie. Schon jetzt weiß ich: Die neue Bestzeit hab ich im Sack. Das 32-Kilomter-Schild. Ich halt das Tempo immer noch. Jetzt kommt laut Pfitzinger der schönste Abschnitt. Er hat Recht. Ich überhole und überhole. Ich sammel den Mann und eine Frau aus der anfänglichen 3er-Gruppe ein. Bei 37 kassiere ich einen Staffelläufer, unglaublich!
Mit Peter an meiner Seite lauf ich auf die 38 zu, da steht mein Fanblock, Freunde! Ich kann sie schon aus 100 Meter Entfernung schreien hören, meine Schwägerinnen sind schon komplett heißer, die Stadtsparkasse schenkt Freibier aus. Das Leben kann so schön sein!
Bei 39. gehts noch mal über ne Schleife durch die Innenstadt. Peter schwört, dass wir "dicke unter 4" bleiben", ich brauche keine Sambatrommeln mehr, ich hör die Glocken jetzt schon läuten! Dann schon das 40er Schild, zum ersten Mal muss ich um das Tempo kämpfen. Die letzten 1,5 Kilometer nehme ich sogar bewusst das Gas ein klein wenig raus, weil ich diese Meter einfach genießen will, verdammt noch mal!
Finale: Jetzt geht es die letzten 500 Meter das Rheinufer runter. Das wird Bestzeit, sonnenklar, das schon die 42er Marke, ist das denn zu glauben, die Uhr zeigt 3:52 brutto, also nichts wie rein, rein ins Ziel, der 4-Stunden-Ballon wird mich nie wieder sehen. Und, Joschka, ich sag Dir jetzt schon, Du bist fällig, vielleicht schon in diesem Jahr...
