Wie überlebt man einen Tag mit abendlichem Wettkampf, wenn man schon seit ner Woche im Taper Madness steckt? Die letzten zwei Tage waren recht einfach, da ich zwei sehr ereignisreiche, anstrengende Tage im Job mit abendlichem Essen hatte. Da war ich gut abgelenkt. Insofern war ich zwar etwas hin und hergerissen, aber letztlich doch froh, als ein Freund Freitag abend das angedachte Drachenboottraining für Samstag bestätigt hatte. Das klingt doch nach nem perfekten Tagesablauf: 8:30 h aufstehen, frühstücken, 11:00 h Treffpunkt zum Drachenboottraining, 11:30 - 12:30 Paddeltraining, 13:30 zurück, letztes Carboloading, sprich Mittagessen, kurzes Mittagsschläfchen und rechtzeitig ab zum Wettkampf, so dass ein entspanntes Warmmachen möglich ist. Nicht soviel Zeit, übernervös zu werden.
Der Haken: 1 h Paddeltraining. Wie geht das, ohne sich anzustrengen und dann möglicherweise nicht topfit in den WK zu gehen? Nun, es geht eigentlich nicht wirklich. Bei allem Fokus auf Technik und Synchronisation mit den Schlagmännern bleibts halt doch anstrengend, aber wenn man Teil eines Teams ist, muss man eben ran, wenn man sich committed hat. Nun, beim Paddeln benötigt man hauptsächlich Rücken, Schulter und Armmuskulatur, insofern ist der Laufapparat nur bedingt und mittelbar beteiligt. Das einstündige Verklemmen der Beine im Boot, um sich zu fixieren, hinterließ hingegen doch einige Spannungen, die mich zuhause angekommen erstmal die Blackroll bemühen ließen. Danach und nach einem leichten Dehnungsprogramm war aber auch wieder gut, und das entspannte Mittagsschläfchen später trug seinen Teil zur Regeneration bei.
Um viertel vor fünf dann Aufbruch nach LA, gerade rechtzeitig, um MikeStar, der sich gerade im Startbereich für den 5er eingefunden hatte, auf die Schulter zu klopfen und ihm viel Erfolg zu wünschen. Leider hat es mit seiner Zielzeit dann nicht ganz geklappt, obschon ein respektables Ergebnis rauskam. Danach Startnummer holen, nochmal in einem Taper-Madness-Anfall zurück zum Auto und doch das Shirt gewechselt, und in einem zweiten das Startnummernband durch die klassischen Sicherheitsnadeln ersetzt.
Dann wie ausgemacht auf den Rasen, wo sich ein leicht enttäuschter, aber nicht geknickter Mike, sljnx und die Rennkartoffel schon zu einem Schwätzchen zusammengefunden hatten. Nach einem kurzen Plausch und dem Austausch bester gegensseitiger Wünsche für den WK gings dann ans Aufwärmen, so ging die Zeit bis zum Start recht schnell rum.
Nun also war es endlich soweit. Mein erster Halbmarathon. Zwar gingen mir noch ein paar Gedanken durch den Kopf, aber insgesamt war ich erstaunlich ruhig und fest entschlossen, mich durch nichts von meiner Taktik abbringen zu lassen. Obwohl - war das Paddeln heute mittag nicht doch etwas anstrengender als geplant? Passt die Taktik zu den Wetterbedingungen? Wird mein Fuß halten? Hat das Trainingsprogramm gepasst? Werden wir noch einen heftigen Platzregen mit Gewitter erleben oder wird es so schwül bleiben? Was davon wäre mir eigentlich lieber?
Ach, papperlapapp, alles egal, kann man ja eh nicht ändern, ganz so drückend wie vor 2 Wochen war's ja nun auch nicht, die Pollen nicht groß spürbar, die Taktik ausgefeilt, hier im Forum gechallenged und dann verfeinert, also sollte sie auch aufgehen. Getapered, carbo-geloaded und vollständig hydriert (hab glaube ich seit dem Morgen bis vor 2 h schon 4 l Flüssigkeit in mich reingekippt, seither fast nichts mehr) stehe ich jetzt am Start und meine Polar zeigt mir eine HF von 85. Adrenalingeschwängerte Nervosität sieht anders aus.
Ich hatte mich ins vordere Drittel gestellt, um nicht vom Start weg bei zu vielen Überholvorgängen die Tempokontrolle und damit zuviel Kraft zu verlieren. Dann gings los, der Start. Aber was war das hier auf den ersten anderthalb Kilometern? Während ich vom Start weg versuchte, möglichst bei mir zu bleiben um mein Tempo und meinen Rhythmus zu finden, stachen die Leute an mir vorbei, überholten mich in Massen und rannten, als ging es um Leben und Tod.
Um mich nicht verrückt zu machen, hatte ich bei meiner Polar zuvor eine Ansicht Schrittfrequenz / Herzfrequenz erstellt und wollte mindestens den ersten km ausschliesslich, und später weite Teile der Strecke nach dieser Ansicht laufen. Seit dem letzten Polar-Update von vor ein paar Wochen zeigt sie mir nämlich die Schrittfrequenz an, und ich habe in diesen Wochen festgestellt, dass ich mein Tempo und Belastungsgefühl super feindosiert steuern kann (ohne verunsichernde Paceschwankungen auf der Uhr durch wechselnden GPS-Empfang), wenn ich mit dieser Hilfe meine Schrittfrequenz hoch halte, da sie mir über eine lange Strecke einen 4/4 er Atemrhythmus im HMRT erst ermöglicht.
Dazu ergänzend ein innerlich murmelndes Mantra im Schrittrhythmus: klei-ne-Schrit-te-wie-ein-Uhr-werk, klei-ne-Schrit-te-wie-ein-Uhr-werk, ... wahlweise mit jedem Schritt oder mit jedem 2.Schritt in halber Geschwindigkeit, und fertig sind die Zutaten für einen langen Tunnel, der alles störende von außerhalb abschirmen soll. Es sollte mich über weite Strecken begleiten.
Die Uhr zeigte nach rund 700 m 88/155. Perfekt für diesen Zeitpunkt. Aber wie langsam musste ich sein, wenn hier alle schneller liefen als ich, unabhängig von deren sportlichen oder auch unsportlichen Erscheinungsbild? Kurzes Umschalten, die Uhr sagt 4:48 momentan und auch als Durchschnittszeit. Passt, ein Ticken schneller als geplant, aber nicht überpaced. Gut. Also zurück auf SF/HF-Kontrolle, ruhig bleiben, sage ich mir, lass die andern laufen, Du wirst die meisten davon wieder einsammeln, falls sie nicht eh nach 5 km wenden. Das erste Mal über die Eisenbahnbrücke, nicht zuviel Kraft verlieren, Schrittfrequenz beibehalten, Puls im Auge behalten. Alles gut. Nun wieder den Rhythmus fürs Flache aufnehmen. Passt. Km 1-5 gehen in 4:48, 4:52, 4:57, 4:55, 4:55 durch, die HF steigt auf 165 (82,5%). Perfekt.
Ich sollte recht behalten, nach 3 km fing das Einsammeln der Übermotivierten an, nach ca. 4 km mussten die allerersten schon Gehpausen einlegen. Nach 5 km dann der Wendepunkt für die 10er und Abzweig für die Halbmarathonies. Waren in Lampertheim zwar nicht gerade Zuschauermassen an der Strecke, aber immerhin etwas Leben, so wurde es ab jetzt erstmal ruhig. Macht aber nichts, bin eh im Tunnel und ganz bei mir. Das einzige, was diesen Tunnel bisher ein wenig unterbrach, waren die häufigen Verpflegungsstellen. Glückliche Kindergesichter reichen Wasserbecher an und freuen sich über jeden, der einen abnimmt. Ich lächle ihnen zu, nehme an jeder Verpflegungsstelle zwei, wenn sie lang genug war sogar drei. Den ersten direkt übern Kopf, den zweiten und optional dritten mit leicht geöffnetem Mund mitten ins Gesicht. Ein wenig den Mund ausspülen und den Rest ausspucken. Die Prozedur wiederhole ich an jeder einzelnen Versorgungsstelle. Jede Kühlung, die ich so geliefert bekomme, muss schliesslich mein Körper nicht leisten. Ab der ersten Verpflegungsstelle laufe ich also klatschnass durch die Gegend und gebe wohl nach außen schon nach drei Kilometern ein bemitleidenswertes Bild ab.
Getrunken habe ich übern gesamten WK keinen Schluck. Ich hatte versäumt, das im Training während des Laufens zu üben und bei der Versuchung, das zu tun, kam mir der ein oder andere Forumsbeitrag über Sinn und Unsinn des Trinkens während des Laufens und der Rat in den Sinn, nur das zu tun, was man im Training probiert hat, so dass ich es bleiben ließ. Und Anhalten zum Trinken und damit Rhythmusunterbrechung kam nicht in Frage, zumal die Flüssigkeitsmenge, die ich in den letzten 3 Tagen zu mir genommen hatte, locker für einen ganzen Marathon bei 30 Grad reichen müsste, was sollten mir die 21 km bei 23 Grad denn da schon anhaben können!
Kurz nach dem 10er Wendepunkt werde ich überholt. Ungewöhnlich zu diesem Zeitpunkt, weswegen mir der Mann, geschätzt Anfang 50, schonmal auffällt. Der zweite Grund für sein Auffallen war sein blaues Finisher T-Shirt des diesjährigen Rennsteigmarathons. Er hatte beim Überholen wohl ein wenig beschleunigt, war aber nur minimal schneller unterwegs, so dass mich dieses blaue Shirt ab jetzt bis fast zum Ziel in Sichtweite begleiten sollte. Das realisierte ich aber erst, als er so ca. 50 m vor mir war. Ab da stelle ich mir ihn sozusagen als das Licht am Ende des Tunnels vor und hänge mich in dem Abstand an ihn dran. Wer den Rennsteig-Marathon gefinished hat und so gleichmäßig das Tempo läuft, bietet sich dafür geradezu an. (Auch) mit seiner Hilfe gehen die km 6-10 in 4:55, 4:53, 5:02, 5:10 (2. Bahnbrücke), 5:03 und 5:00 durch, die 10 km Marke passiere ich bei 49:36 und damit fast auf die Sekunde im Plan.
Ab km 9 bis 13 führt die Strecke durch den Wald. Hier steht die Luft, es ist sogar noch etwas schwüler als in der Stand oder auf dem freien Feld. Hinzu kommt, dass das nicht geteerte Stück ab km 10 sich nicht gerade in einem guten Zustand befindet. Stark nach außen gewölbt, kann man sich aussuchen, ob man auf einer festen Schräge links oder rechts oder in der Mitte auf kleinen Kieseln läuft. Und das, wo ich doch ab km 10 ganz leicht beschleunigen und die HF auf ca. 175/87% steigern wollte. Das passiert nun, aber der Effekt auf die Pace verpufft entweder in der Schwüle oder im Geröll. Das hätte ich vorher wissen können, ja, müssen, da ich diesen Teil der Strecke regelmäßig im Training laufe. Allerdings war da bis vor 6 Wochen noch Baustelle und der Weg zwischenzeitlich völlig zerstört.
Aber ich habe Glück. Ich laufe gerade auf zwei Läufer auf, die mir die Position nicht kampflos überlassen wollen, und so lenkt der Dreikampf, bei dem ich stur wie ein Bock und versunken in mein Mantra meine Schritt- und Herzfrequenz halte, ganz gut von den äußeren Bedingungen ab. Kurz vor Ende der Waldpassage lassen mich meine beiden Mitstreiter ziehen, und das blaue Rennsteig-T-Shirt, welches sich nach wie vor 50-70 m vor mir befindet, rückt wieder in den Fokus. Bei km 13 dann raus aus dem Wald, eine Anfeuerungs- und Verpflegungsstation im Stadtteil Rosengarten, km 14 /15 entlang der Bundesstraße zurück Richtung LA. Hier überhole ich fast 10 Läufer, das motiviert. Die Splits weiterhin konstant: 4:57, 4:53, 5:04, 4:56, 4:55.
Das war der Zeitpunkt, um nochmal kritisch in mich rein zu horchen und zu entscheiden, wieviel Körner da für die letzten km noch sind, um die Endbeschleunigung zu starten. Ich wage einen Test, schalte die "Standardanzeige" meiner Uhr von SF/HF um auf Pace/HF, drücke nochmal ne Zwischenzeit ab und beschleunige auf 4:45, die HF passiert die 180 (90%) - Marke. Mein Klei-ne-Schrit-te Mantra hat nun ausgedient, die Frequenz werde ich auch so beibehalten. Aber ich muss nun den Atemrhythmus von 4/4 auf 3/3 umstellen. Ich hab ein ziemlich großes Lungenvolumen und komme mit 4/4 bis 85 % und mit 3/3 bis >90 % HF eigentlich ganz gut aus. Nun also ein neues Mantra für den 3er Rhythmus und die letzten fünfeinhalb km. An dieser Stelle herzlichen Dank an lexy, der kürzlich an anderer Stelle den perfekten Vorschlag für genau diesen Zeitpunkt eines HM's lieferte, den ich im Training auch zuvor erfolgreich getestet habe: Al-les-nur Kopf-sa-che.
Ich überhole einen weiteren Läufer, fliege mit 4:37 geradezu an ihm vorbei und stelle mir vor, wie ich nun einen Angriff auf das blaue Shirt starten werde, bin jetzt bereit für den ganz großen Kampf, da ja ein HM bekanntlich ab km15 erst beginnt, die Zielzeitschätzung meiner Uhr bewegt sich von oben kommend auf 1:43 zu, was mich zusätzlich motiviert, als mich plötzlich ein Stich im rechten Grosszehengelenk zurück in die Realität holt. Shit!!! Ja, da war doch was. Das war jetzt vier Wochen lang ruhig, inklusive meiner 2k@4:30 Intervalle. Aber jetzt, nach 1 h 10' unter Pace 5 meldet sich der Schmerz in der EB wieder. Mir bleibt nichts anderes übrig, als wieder einen Gang zurück zu schalten, bis ich einen Rhythmus und eine Pace finde, die der Fuss mitmacht.
Es zeigt sich, dass dies bei rund 4:50 der Fall ist. Da ist nur ein ganz ganz leichter Schmerz, damit kann ich leben. Jetzt gehts also nur minimal beschleunigt zurück in die Innenstadt, aber das reicht trotzdem, um jetzt einen Läufer nach dem anderen zu kassieren. Km 16,17,18,19 gehen in 4:56 (Resultat der "Neufindungsphase") 4:52, 4:46 und 4:50 bei rund 92-93% HFmax durch, es fängt an, weh zu tun. Km 20 ist angebrochen, und bis hierher stimmt die Anzeige meiner Polar bis auf ca. 30 m mit den Streckenmarkierungen überein. Die Zielzeitschätzung sagt mir, eine Sub1:44 wäre noch möglich, was zu dem Zeitpunkt zusätzlich motiviert aber sich hinterher als Illusion herausstellen wird, da die Uhr im Ziel erst bei 21,3 km abgedrückt werden wird. Also über 150 m Abweichung auf den letzten 2 km, 200 m (imho sehr gute 1%) über die Gesamtstrecke.
Es wird nun ruhig an der Strecke, lediglich ein einzelner vielleicht 8jähriger, treuer Anfeurer hält die Stellung und klatscht jeden einzelnen Läufer hier ab. Toll. Aber da ist ja noch diese Brücke am Ende von km 20. Hoch türmt sie sich auf, und selbst das blaue T-Shirt, das seit nunmehr fast 15 km sicht- aber unerreichbar vor mir herläuft, kommt nun immer näher, obwohl er gerade zwei Läufer überholt. Klar, er ist ja schon im Anstieg. Noch im Anstieg - Wechsel von "Al-les-nur Kopf-sa-che" auf "Ko-opf Sa-che", also von 3/3 auf 2/2. Jetzt kassiere ich ebenfalls die 2 Läufer und bin nun noch vielleicht 30, 40 m hinter dem blauen Shirt. Letzter km, 2/2er Atemrhythmus, HF bei 190/95%, kämpfen, kämpfen, kämpfen. Die Bergabbeschleunigung nutzen und Tempo halten. Ransaugen. Den wieder aufkommenden Fussschmerz ignorieren, das ist jetzt Kopfsache! KO-HOPF SA-CHE, KO-HOPF SA-CHE!!! Die letzte Kurve vor der 300 m langen Zielgeraden. In 20 m hab ich ihn. Jetzt ist alles scheißegal. Vollgas, ich will den kassieren. Scheiß auf den Fuß, scheiß auf keine Kraft mehr, scheiß auf keine Luft mehr, Sprint. Irgendjemand schreit irgendwas (das war unsere Rennkartoffel

). Der Atemrhythmus geht jetzt weg, kurz vorm hyperventilieren. Noch knapp 100 m, da fliege ich an ihm vorbei. 16 km ein blaues Shirt vor mir, und nun ist es weg, das Licht am Ende des Tunnels ist da, nur noch das Ziel vor mir, noch 50 m Sprint, ich lass ihn nicht kontern, VOLLGAS und Arme hoch fürs ZIEL!
Im Ziel totale Erschöpfung. Im Kreis trabend, laut röchelnd und hyperventilierend irre ich umher und ziehe schon besorgte Blicke der Sanitäter auf mich, denen ich versuche, mittels eines Victory-Zeichens und eines gequälten, aber glücklichen Lächelns zu signalisieren, dass ich gerade bei HF 194/97% durchs Ziel gelaufen bin und man da die Contenance schonmal verlieren kann, ansonsten aber alles in Ordnung ist und ich Ihnen jetzt nicht gleich den Zielbereich vollk... werde. Dann versinke ich in den Armen meiner liebsten, die mich im Ziel erwartet hat.
Ein geiler WK, an dessen Ende eine 1:44:40 Netto stand. Damit habe ich mein Ziel von Sub1:45 auch unter herausfordernden Bedingungen erreicht. Heute konnten mir weder Schwüle noch Erschöpfung noch Schmerz etwas anhaben. Ich habe schlicht funktioniert wie ein Uhrwerk, mit nur minimalen Schwankungen. Eine geile Erfahrung, die mich auch mit Stolz erfüllt.
Nachtrag: Der Brückenkilometer 20 ging übrigens in 5:08 durch, der letzte und damit schnellste in 4:39.